Karoline Lazar (links), Klaus Meusel (Jobclub VS, Zweiter von rechts) und Tour-Geschäftsführer Martin Vetter (rechts) freuen sich, dass Kouma Etsrou (Zweiter von links) zu einem wichtigen Teil des Tour-Teams geworden ist. Foto: Eich

Vor rund 20 Jahren floh Kouma Etsrou nach einem Aufstand aus Togo, landete schließlich beim Villinger Fahrradspezialisten Tour. Eine Erfolgsgeschichte, wie sie im Buche steht.

Villingen-Schwenningen - Es sind Erfahrungen, die aus einer längst vergangenen Zeit stammen könnten: Um seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen, eine Gazelle fangen oder unter freiem Himmel tagelang eine Herde hüten und Krokodile jagen. Kouma Etsrou hat sie in seiner Heimat in Togo erlebt.

Deshalb stutzte er auch, als er hier in Deutschland gefragt wurde, ob er mit zum Camping möchte. "Ihr seid doch doof – warum geht ihr gerne raus, ich habe meine Wohnung!", hat der 49-Jährige damals darauf geantwortet. Heute erzählt er diese Geschichte mit einem Lächeln – weiß um die großen kulturellen Unterschiede zwischen seiner westafrikanischen Heimat und den europäischen Gefilden.

Persona non grata in Togo

Und er weiß auch um die Sicherheit, die ihm hier geboten werden konnte – nachdem er in seiner Heimatstadt einen Aufstand ausgelöst hatte und von der Gefolgschaft des damaligen Diktators zur persona non grata erklärt wurde. Rund 20 Jahre ist das her. Kritik, die er während einer Parteiveranstaltung für den Diktator geäußert hatte, reichte, um die Situation eskalieren zu lassen.

"Zwei Polizisten haben gesagt, ich muss mitkommen", erinnert sich Etsrou. Er weigert sich, wird laut. Menschen um ihn herum bekommen die bedrohliche Situation mit, die Lage eskaliert – insbesondere, als die Polizei den damals 28-Jährigen mit Handschellen auf den Kopf schlägt. Die Folge sind Tumulte. "Die Polizisten haben geschossen, es gab mehrere Tote."

Er konnte weder lesen noch schreiben

Frau und Kinder muss er zurücklassen, ihm drohte Folter und der Tod. Nachdem seine Verletzungen behandelt wurden, organisiert sein Bruder, der in Ghana als Arzt tätig ist, die Flucht mit dem Flugzeug nach Deutschland. Vom Erstaufnahmezentrum in Koblenz wird er nach Karlsruhe geschickt. Als togolesischer Landwirt, der nicht schreiben und lesen kann. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln. "Ich konnte kein einziges Wort Deutsch, dachte dass das vielleicht zehn Kilometer sind – es war unglaublich", so der 49-Jährige.

Nach zwei Tagen kommt er in Karlsruhe an, zwei Monate später landete er in der Asylunterkunft in der Obereschacher Straße in Villingen. Zwei Jahre lebte er dort, wusste – aufgrund des laufenden Asylverfahrens – nichts mit sich anzufangen. "Ich hatte keine Perspektive, wollte eigentlich wieder in meine Heimat." Doch die Auswirkungen des Aufstands verhinderten dies.

Dauerhaftes Bleiberecht erhalten

Paradoxerweise sorgten sie aber gleichzeitig dafür, dass ihm in Deutschland ebenjene zunächst fehlende Perspektive geboten werden konnte. Ein Gericht in Freiburg konnte seine Geschichte über die Tumulte und die anschließende Flucht verifizieren, die Kriterien für ein Asylrecht und ein dauerhaftes Bleiberecht waren somit gegeben.

Währenddessen traf er durch eine nahezu glückliche Fügung auf Martin Vetter – den Geschäftsführer des Villinger Fahrradhändlers Tour. Denn Etsrou reparierte zur Beschäftigung Räder. Dass er dafür ein besonderes Händchen hat, ist kein Zufall: "Bei uns in Togo muss jeder wissen, wie man das Fahrrad repariert, das ist für uns wie ein normales Fahrzeug." Für ein Ersatzteil, ging er zu Tour – dabei fasste er sich ein Herz, fragte nach, ob sie jemanden in der Werkstatt bräuchten.

Erst Aushilfe, dann Festanstellung

Tatsächlich wurde er 2004 zunächst zur Aushilfe, erhielt dann gar eine Festanstellung bei Tour. "Wir sind sozial eingestellt", begründet Vetter den Schritt, einen Flüchtling ohne Ausbildung und mit gebrochenen Deutschkenntnissen zu übernehmen.

Er arbeitete monatelang durch, um dann seine Familie zu besuchen – zur Sicherheit traf man sich in Ghana bei seinem Bruder. Mit einigen Hürden erhielt er die deutsche Staatsangehörigkeit ("das war nicht so einfach!") – und dann war auch klar: Die Frau sollte mit den drei jüngsten der mittlerweile vier Kinder nachkommen.

Fünf Jahre dauert der Familiennachzug

Die Bürokratie machte einem schnellen Familiennachzug aber einen Strich durch die Rechnung. Unglaubliche fünf Jahre dauerte es, bis – dank Unterstützung der Tour-Mitarbeiterin Karoline Lazar, die mittlerweile fast so etwas wie eine "Ersatz-Oma" der Familie geworden ist – seine Frau Marie im Jahr 2019 in die Doppelstadt kommen kann. Mit dabei, die drei Töchter (heute 22, 9 und 8 Jahre alt), ein Sohn (24) ist zum Studieren in der Heimat geblieben – folgt aber ebenso bald nach Deutschland. In VS kommt zudem ein Sohn zur Welt, der mittlerweile zwei Jahre alt ist.

Das Glück der Familie ist somit perfekt – auch wenn Etsrou von rassistischen Anfeindungen berichtet, die über die Jahre gar zugenommen hätten. Das gelassene Gemüt des 49-Jährigen ist damit aber nicht beeinträchtigt. Der Togolese hat seinen Platz in seiner neuen Heimat gefunden – auch dank seines Jobs, in dem er auf ganzer Linie überzeugen kann. Sein Chef Vetter, mit dem Etsrou oft freundschaftlich frotzelt, betont, dass er aus dem Team nicht mehr wegzudenken sei.

Und das, obwohl der Fahrradspezialist bislang keine Ausbildung gemacht hat. "Pf, warum auch?", sagt er lachend – dann will er wieder zurück in die Werkstatt, wo er sich seit 18 Jahren wohlfühlt und gebraucht wird.

Info: 138 Nationalitäten in VS

50 Jahre alt wird die Doppelstadt Villingen-Schwenningen in diesem Jahr. Ein halbes Jahrhundert, dessen Geschichte auch viele Zuwanderer mitgeschrieben haben. Die Mischung ist beachtlich, denn so vielfältig war Villingen-Schwenningen noch nie.

Die Zahl der in Villingen-Schwenningen vertretenen Nationen stieg von 14 auf heute 138 Nationalitäten seit Gründung der Doppelstadt vor 50 Jahren. Menschen aus vielen anderen Ländern also haben die 50-jährige Geschichte der Stadt Villingen-Schwenningen mitgeschrieben – als Gäste, Zuwanderer, Flüchtlinge, Gastarbeiter und vieles mehr. Vor allem Rumänen, Italiener, Kroaten, Türken und Syrer bildeten 2021 die Top Fünf in der Stadt.