Auf dem Nato-Gipfel in Vilnius wird Kiew erneut die Aufnahme des Landes in das Verteidigungsbündnis fordern. Auch für die Sicherheit Westeuropas hätte das langfristig Vorteile. Doch es gibt gute Gründe, nichts zu überstürzen.
Wolodymyr Selenskyj hat eine klare Forderung. Sein Ziel ist es, dass die Nato beim Gipfel in Vilnius den Weg freimacht für die Aufnahme der Ukraine ins westliche Militärbündnis. Der Präsident dürfte allerdings enttäuscht werden. Vor allem die USA und Deutschland haben zuletzt immer wieder signalisiert, dass sie keine konkreten Zusagen machen wollen. Betont wird zwar immer wieder, dass Kiew eines Tages Mitglied sein wird, einen bindenden Zeit- oder Fahrplan dafür gibt es allerdings nicht.
Unterstützung für seine Forderungen bekommt Selenskyj insbesondere von mittel- und osteuropäischen Staaten wie Litauen. Doch auch sie werden Washington oder Berlin nicht zu einem Kurswechsel bewegen können. Gegner einer konkreten Beitrittsperspektive erklären ihre Position damit, dass dieses Ziel wegen des anhaltenden Krieges derzeit nicht realistisch sei und von der viel wichtigeren Unterstützung für die Ukraine mit Waffen ablenken könnte. Zudem wird das Risiko gesehen, dass neue Zusagen der Nato Russland Argumente für eine noch aggressivere Kriegsführung liefern könnten.
Nach Angaben von Generalsekretär Jens Stoltenberg bereitet die Nato für den Gipfel ein umfassendes Unterstützungspaket für die Ukraine vor. Es soll ein mehrjähriges Programm vereinbart werden, um künftig eine reibungslose Zusammenarbeit zwischen den Streitkräften der Ukraine und des Bündnisses zu ermöglichen. Das Programm ist mit vorerst 500 Millionen Euro dotiert. Zudem soll das bereits 2008 gegebene Versprechen erneuert werden, dass die Ukraine Mitglied der Nato werden kann. Bis dahin ist geplant, die politischen Beziehungen über die Schaffung eines neuen Nato-Ukraine-Rates zu vertiefen.
Merkel und Sarkozy bremsten
Im Jahr 2008 war Kiew versichert worden, in die Nato aufgenommen zu werden. Damals bremsten die damalige Kanzlerin Angela Merkel und der französische Präsident Nicolas Sarkozy den US-Präsidenten George W. Bush aus, der die Allianz zu einer schnellen Aufnahme der Ukraine gedrängt hatte. Hätte die Nato die Ukraine schon damals aufgenommen, hätte Russland das Land niemals überfallen, lautet heute die einfache Gleichung vieler Kritiker.
Doch der Westen hat aus dem neoimperial-aggressiven Verhalten Russlands gelernt. Deswegen werden nun die Möglichkeiten durchgespielt, die Ukraine so schnell wie möglich fest in das Verteidigungsbündnis zu integrieren, ohne den letzten Schritt der Aufnahme zu vollziehen. Das ist nicht nur im Sinne Kiews, auch die Staaten der EU müssen ein großes Interesse daran haben, dass die Sicherheit der Ukraine langfristig gewährleistet ist. Denn russische Truppen auf dem Gebiet der Ukraine würden die Sicherheitsarchitektur in Europa dramatisch verschlechtern und könnten den gesamten Westen destabilisieren. Auch dürfte Moskau daraus die Lehre ziehen, dass sich außenpolitische Interessen militärisch durchsetzen lassen.
Doch wie lässt sich auf Dauer die Sicherheit der Ukraine gewährleisten? Die Militär- und Osteuropaexpertinnen Claudia Major und Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin haben dazu drei Szenarien skizziert – von denen allerdings zwei sehr unrealistisch sind. Sie bringen eine Demilitarisierung Russlands ins Spiel. Ziel wäre, die Reduzierung der Streitkräfte und der Rüstungsindustrie auf ein Maß, das gerade noch die Selbstverteidigung gestattet. Dafür sei aber auch ein Regimewechsel und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der hegemonialen Vergangenheit unumgänglich. Diesen Weg halten auch die beiden Wissenschaftlerinnen für äußerst unwahrscheinlich. Sie sehen als zweite Möglichkeit, dass die Ukraine den Besitz von Atomwaffen anstrebt. „Schließlich schützt das Prinzip atomarer Abschreckung aktuell sowohl Russland als auch die Nato“, betonen sie, schieben aber nach, dass eine Atommacht Ukraine nicht im Interesse des Westens wäre.
Dritte – und anzustrebende – Option ist in den Augen von Claudia Major und Margarete Klein „die Einbindung der Ukraine in bi- oder multilaterale Systeme kollektiver Verteidigung“. Dazu zählen sie vor allem die Mitgliedschaft in der Nato. Der Weg dorthin ist mit vielen Unwägbarkeiten gepflastert. So muss beim Heranführen der Ukraine an das Verteidigungsbündnis eine Eskalation mit Russland vermieden werden. Fragen stellen sich auch angesichts des Zeitpunktes eines Nato-Beitritts der Ukraine. Stoltenberg zufolge wäre das erst nach dem Krieg möglich, ohne dass allerdings geklärt wäre, ob das einen Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen voraussetzt. Die beiden SWP-Fachfrauen betonen, dass eine solche Konditionierung zwar das Risiko reduziere, dass das westliche Verteidigungsbündnis in den Krieg hineingezogen wird, könne aber auf russischer Seite den Anreiz erhöhen, ihn fortzuführen, um einen Beitritt zu verhindern.
Zwischenschritte sind nötig
Die Lösung dieser Probleme wäre in ihren Augen eine Flexibilisierung der Erfüllung der Beitrittskriterien, etwa durch eine temporär begrenzte geografische Anwendbarkeit der Verteidigungszusagen und weitere Zusatzvereinbarungen. Historische Ansatzpunkte bietet das Beispiel Westdeutschland, das 1955 der Nato unter der Bedingung beitrat, die deutsche Vereinigung nicht militärisch unilateral voranzubringen.
Auch wenn auf dem Nato-Gipfel der Ukraine keine konkreten Zusagen gegeben werden, so werden doch die Weichen für die künftigen Beziehungen gestellt. Eine schnelle Aufnahme ist auch deshalb unrealistisch, weil die Ukraine noch fundamentale Reformen in ihrem Sicherheitsapparat umsetzen und auch den Kampf gegen die grassierende Korruption fortführen muss. Aus diesem Grund sind Zwischenschritte notwendig, die die Sicherheit der Ukraine schon vor dem Beitritt substanziell steigern.