Der Mauerfall, der den endgültigen Zusammenbruch der DDR bedeutete, jährt sich am 9. November zum 35. Mal. Guido Schöneboom, Erster Bürgermeister der Stadt Lahr und gebürtiger Leipziger, hat die Wendezeit hautnah miterlebt. Unsere Redaktion hat mit ihm gesprochen.
Zu Beginn hat Guido Schöneboom die Ereignisse im Jahr 1989 nicht so richtig verarbeiten können. Er saß zuhause in Leipzig vor dem Fernseher, als das Politbüro-Mitglied Günter Schabowski die unverzügliche Reisefreiheit aller DDR-Bürger verkündete. „Mit dem Zettel stand er da und hat rumgestottert“, erinnert sich Schöneboom. Was das bedeutete, was Schabowski da ablas, begriffen damals wie Schöneboom auch viele DDR-Bürger erst nach und nach: Die innerdeutsche Grenze war plötzlich offen.
Bereits im September desselben Jahres hatten in Leipzig die Montagsdemonstrationen begonnen, an den Kundgebungen im Oktober nahmen dann erstmals mehr als 100 000 Menschen teil. Auch der damals 24-jährige Schöneboom war dabei. Ganz ungefährlich sei das in seiner Stellung als Lehrer nicht gewesen, auf der Demo habe man sich nach bekannten Gesichtern umgesehen und sich gegenseitig beäugt: „Aber wir wollten dabei sein“, erzählt der Lahrer Vize-Chef. Das Ziel sei gewesen, „das Land zu verändern. Wir haben nicht direkt das Ende der DDR herbeigesehnt, wir wollten sie reformieren,“ so Schöneboom weiter. Für ihn war die Bundesrepublik kein Sehnsuchtsort: „Das Gefühl war, mein Land ist die DDR.“
Trotzdem waren die Demonstrationen für Schöneboom mit dem Wunsch verbunden, die Allmacht des SED-Apparats zu brechen, wie er sagt. Und schnell habe sich die Gefühlslage seiner Landsleute geändert: „Da wurden die Embleme aus den DDR-Fahnen herausgeschnitten und es gab die ersten Sprechchöre nach Wiedervereinigung“, erzählt er.
Der erste Besuch in Westdeutschland war ein Geschenk an seine Mutter
Im Dezember 1989 kam Schöneboom zum ersten Mal nach Westdeutschland, fuhr mit seiner Mutter im Wartburg nach Bremen. Dort lebte ein Teil ihrer Familie. Und Schöneboom stellte fest: „Der Klassenfeind ist ja nett.“ In einer Bremer Buchhandlung fragte er: „Haben Sie auch etwas von Remarque?“ „Eine typische Ossi-Frage“, sagt Schöneboom dazu. In der DDR waren die Werke Remarques bis auf den Antikriegsklassiker „Im Westen nichts Neues“ nicht erhältlich, in Bremen gab es sie komplett. Seine Bremer Tante Carola habe ihm dann alles gekauft.
Die Reise nach Bremen war ein Geschenk an seine Mutter, der Vater war strikt dagegen. Schöneboom stammt aus einer Familie, die loyal zur DDR stand. Sein Vater war im Kombinat Aufbereitung tierischer Rohstoffe Leipzig tätig und sogenannter „Reisekader“, durfte also ins nichtsozialistische Ausland reisen. Von seinen Reisen brachte er seiner Familie auch mal Annehmlichkeiten des Westens mit, zum Beispiel in Form von Schallplatten: „Mein jüngerer Bruder bekam Van Halen, ich Pink Floyd“, erzählt Schöneboom.
Prozess der Vereinigung von West und Ost nicht abgeschlossen
„Mein Vater war treuer Sozialist“, sagt Schöneboom. Die Verbitterung der Generation seiner Eltern 35 Jahre nach der Wiedervereinigung kann er nachvollziehen: „Die Lebensleistung war plötzlich nichts mehr wert“, so Schöneboom. Das im ehemaligen Osten vorherrschende Gefühl, vom Westen ausgebeutet worden zu sein, findet er zumindest für die ersten Jahre nach der Wende nicht ganz falsch: „Die kapitalistischen Grundsätze haben damals gewirkt. Treuhand und Glücksritter haben geholfen, Betriebe zu zerschlagen. Da kam das Gefühl auf, der Stärkere habe sich durchgesetzt.“ Dass es eher eine Aneignung des Ostens durch den Westen gab statt gegenseitiger Annäherung, findet Schöneboom bis heute bedauerlich.
Warum wird heute immer noch so stark in Ost und West unterteilt? Schöneboom glaubt, dass solange noch Menschen leben, welche die DDR aktiv miterlebt haben, der Prozess der Vereinigung von West und Ost nicht abgeschlossen sein wird.
Schließlich habe im Osten der Westen schlicht nicht stattgefunden, andersrum sei es ähnlich gewesen: „Aber da wird auch viel übersteuert. Da gibt es den Ostblick und den Westblick – ich habe diese Kategorisierung für mich irgendwann aufgegeben.“
AfD-Erfolge im Osten
Nach den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg werden Stimmen laut, die die mangelnde Aufarbeitung der Ostdeutschen mit der DDR-Diktatur verantwortlich machen für antidemokratisches Denken und die Erfolge der AfD im Osten Deutschlands. Schöneboom widerspricht: „Das ist zu schlicht und da fehlt eine richtige Auseinandersetzung. Das erklärt nicht, warum auch in den alten Bundesländern vieles AfD-blau ist“.