Ricky Baerg und seine Frau Meike wohnen mit ihren drei Kindern in geradezu kitschiger Bergidylle. Foto: Gabriele Hauger

Mitte 20, seit zwei Jahren verheiratet.Dann die Diagnose Multiple Sklerose. Da bricht eine Welt zusammen. Doch der Steinener Ricky Baerg verfolgt seinen Lebenstraum.

Wir sind bei Ricky Baerg Zuhause verabredet. Zuhause, das ist im Klosterhof 2, oberhalb von Weitenau auf einem idyllischen, sonnigen Plateau gelegen. Beim Kloster geht es rechts ab, bergan durch bunt gefärbte Wälder führt die schmale Straße, vorbei an Ponys, die neugierig gucken, im Hintergrund grast eine Kuhherde. Stahlblauer Himmel – mein Gott wie schön und ruhig ist das hier oben.

 

Hier oben, das ist die neue Heimat der Familie Baerg und weiterer fünf Familien. Auf der sonnendurchfluteten Terrasse genießt er im Rollstuhl sitzend gerade die Reste seines Mittagsschnitzels, als wir ihn besuchen. Er freut sich, kommt gerade von seiner Arbeit aus dem Krankenhaus in Schopfheim. Hier war er als Krankenpfleger angestellt – solange es seine Krankheit zuließ. Inzwischen arbeitet er halbtags am gleichen Ort als Sozialberater, sorgt dafür, dass Patienten „gut entlassen werden“, dass Reha und Pflegeplätze aufgegleist werden. „Ich bin sehr dankbar für diesen Job“, sagt er und lacht.

Mit Optimismus und Gottvertrauen

Der 37-Jährige lacht viel und gerne. Er sei ein heiterer optimistischer Mensch, vielleicht manchmal auch ein wenig naiv, ergänzt er. Mit einer gewissen Naivität und viel Gottvertrauen ging er sein Leben auch nach der Diagnose 2012 an.

Es begann alles ganz harmlos, erinnert er sich. Sein Sehnerv war etwas entzündet. „Das wird wohl vom Luftzug beim Radfahren kommen“, sagte sich der begeisterte Sportler damals. Als Augentropfen nichts wirkten, wurden weitere Tests gemacht. Und brachten das niederschmetternde Ergebnis: Multiple Sklerose.

Hier stand einst eine abbruchreife Scheune. Nun wohnen hier vier Familien, darunter die Baergs. Foto: Gabriele Hauger

Er ist kein Typ fürs Jammern

Cortison ließ die Entzündung aber abklingen, die Diagnose hat er schlichtweg verdrängt. „Ich sah wieder gut und fühlte mich fit.“ Für ein halbes Jahr fuhr er mit seiner Frau Meike nach Kanada, in die Heimat seiner Mutter zum „Work and Travel“. „Wir haben einfach weitergemacht.“

Er sei kein Typ fürs Jammern, erzählt Baerg. Und so kauften er und seine Frau in ihrer damaligen Heimat Bayern ein Haus. 2015 kam Tochter Sanni auf die Welt. In diese so glückliche erste Elternzeit fielen indes auch die ersten merklichen Leistungseinschränkungen. „Beim Sport brauchte ich zunehmend Pausen. Meine Beine zitterten.“ Bald kam ihm der Kinderwagen als Stützhilfe bei langen Spaziergängen gelegen. Dennoch waren die Baergs so gut es ging sportlich unterwegs.

50 Prozent arbeitete er in einer Anästhesiepraxis, 50 Prozent pflegte er einen jungen, bettlägerigen Mann. „So spürte ich täglich, es gibt Menschen, denen es viel schlechter geht als mir. Jeder hat eben sein Schicksal zu tragen.“

Auf dieser Anhöhe liegt der Hof. Foto: Gabriele Hauger

Viel geredet hat er in dieser Zeit mit seiner Frau. Auch sie wirkt extrem heiter und ausgeglichen. Die beiden lächeln sich oft an, gehen liebevoll miteinander um. „Es war eine herausfordernde Zeit“, sagt Meike Baerg.

Seit 2018 ließ sich die Krankheit auch vom Gangbild her nicht mehr verbergen, erzählt der 37-Jährige. „Das Coming-out war für mich dann schon ein Riesenthema.“ Doch sobald es heraus war, dass er MS hat, sei der Druck weg gewesen. Kollegen reagierten unerwartet offen. „Und ich habe gelernt, auch mal um Hilfe zu bitten.“

Die Kinder streiten oft, wer auf Papas Schoß mit Rollstuhl fahren darf. Foto: Gabriele Hauger

Aufgrund der Einschränkungen wechselte Ricky Baerg in einen Elektrobetrieb zur Büroarbeit. Seit 2020 ist er auf den Rollstuhl angewiesen. In der Reha tankte er Kraft. Als weiterer Motivationsschub dient die Anschaffung eines Handbikes, mit dem er wieder viel sportlich unterwegs sein kann.

Und dann nimmt sein Leben eine ungeahnte Wendung. Zwei alte Schulfreunde, mittlerweile in Basel wohnend, melden sich. Sie wollen gemeinsam einen Hof kaufen und ein Wohnprojekt starten. Und möchten, dass Ricky und seine Familie mit dabei sind.

Der Sprung ins kalte Wasser

Beim ersten Besuch auf dem Klosterhof hielt sich seine Begeisterung indes in Grenzen. „Es war keine Liebe auf den ersten Blick“, lächelt er. Doch irgendwie ließ das Ehepaar der Gedanke an das Projekt nicht los.

Und sie sprangen ins kalte Wasser. Das Haus in Bayern wurde verkauft. 2023 zogen sie nach Weitenau, zunächst in den Altbau. „Manchmal fragten wir uns schon: Was machen wir hier eigentlich?“, fasst Meike Baerg lachend die großen Herausforderungen zusammen. Seit diesem Jahr ist der Neubau fertig, und sie wohnen in einer hellen, behindertengerechten Erdgeschoss-Wohnung mit viel Grün drumherum.

14 Kinder von sechs Familien sind es insgesamt, die auf dem weitläufigen Gelände herumtollen können; Trampolin, Holzpferd und seit neuestem Hühner sind vorhanden. Jede Familie hat ihre eigene Wohnung. Vier davon wurden komplett neu auf dem Areal der vormaligen abbruchreifen Scheune gebaut. Zwei weitere sind im ehemaligen Hof, hier muss noch einiges renoviert werden. Die Menschen, die hier wohnen, haben sich einen Traum erfüllt. Und der an MS erkrankte Ricky Baerg ist einer von ihnen.

Die Familie Baerg ist gut vernetzt. Die inzwischen drei Kinder gehen im Dorf auf die Schule, Meike Baerg arbeitet als Zahnarzthelferin, und zum Hoffest luden sie alle Dorfbewohner ein. „Ich will, dass meine Kinder einzigartig groß werden“, sagt Ricky Baerg, und schaut auf Sanni, John und Nesthäkchen Vincent, die mit ihren Freunden Richtung Kuhherde rennen.

Es gibt auch „Scheißtage“

Natürlich gebe es sie auch: die „Scheißtage“, natürlich verschlechtere sich vieles schleichend. Dennoch sind Meike und Ricky Baerg voller Zuversicht.Es gebe ja neue Medikamente, Reha und die Nutzung einer neuen medizinischen Innovation, des Neuromodulations-Anzugs des Prothesenherstellers Ottobock, der die Nerven stimuliert – all das macht ihnen Mut für die Zukunft. Auch ihr Glaube stärke beide darin, sich nicht von Zukunftsängsten auffressen zu lassen.

Auf seinem geländegängigen Rollstuhl begleitet uns Ricky Baerg zum Parkplatz. „Ich will nicht weggesperrt werden. Ich möchte am Leben teilnehmen, egal, was kommt“, sagt er mit Nachdruck und verabschiedet sich lächelnd mit festem Händedruck. Was bleibt, ist die Überzeugung, dass er und seine Familie das schaffen werden.