Mehr als 40 000 Narkosen werden täglich in deutschen Krankenhäusern vorgenommen. Eine weitgehend schmerzfreie OP – das hat die Menschheit einem Zahnarzt zu verdanken, der 1846 erstmals einen Patienten in einen künstlichen Tiefschlaf versetzte.
Stuttgart - Als der Kinderanästhesist Christoph Schramm an einem Tag im März 2021 in den Operationssaal des Klinikums Stuttgart gerufen wurde, stand das Leben des dort behandelten zwölfjährigen Mädchens auf der Kippe: Ein Lebertumor so groß wie ein Fußball hatte die Patientin derart geschwächt, dass ihr Herz zu versagen drohte. „Wir wussten, wenn wir nicht sofort den Tumor entfernen, wird das Mädchen sterben“, sagt der Sektionsleiter Kinderanästhesie.
Um beides im Blick zu haben – den Blutverlust durch die notfallmäßige Tumorentfernung wie auch das schwache Herz des Mädchens –, griffen der Anästhesist und sein Team zu allen Möglichkeiten, die die moderne Medizintechnik zu bieten hat.
Mehr als bloß Betäubung
Das Mädchen wurde an eine ECMO angeschlossen – eine Maschine, die Blut außerhalb des Körpers mit Sauerstoff anreichert. Die Herzfunktion wurde per Schluckultraschall durch die Speiseröhre beobachtet. Gleichzeitig bekam es Medikamente, die den Kreislauf stabilisieren – dazu noch zahlreiche Bluttransfusionen.
Anhand der Ultraschallbilder und der gemessenen Kreislaufwerte wurden die Narkose und die Flüssigkeitszufuhr genau abgestimmt. „Letztlich gelang es uns so, das Mädchen stabil zu halten, damit die Chirurgen den Tumor in eineinhalb Stunden entfernen konnten“, schildert Schramm.
Es ist der Wunsch eines jeden Patienten, der operiert werden muss: Ein Arzt versetzt ihn in Narkose, der Chirurg nimmt den Eingriff vor, und wenn er aufwacht, ist er schon auf dem Weg der Heilung.
Auch die Erinnerung ist weg
Das Wort Anästhesie kommt aus dem Griechischen und bedeutet „ohne Empfindung“. Der Körper nehme in diesem Zustand Schmerzreize nicht als Schmerzreize wahr, sagt Andreas Walther, Ärztlicher Direktor der Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Klinikum Stuttgart.
Mehr noch: Bei einer Allgemeinanästhesie, Vollnarkose genannt, ist das Bewusstsein des Patienten so erloschen, dass er sich an nichts erinnert.
Stattliche 175 Jahre ist es her, seitdem ein Mensch bewusst in künstlichen Schlaf versetzt wurde, um Bewusstsein, Schmerzempfinden und Reaktionsvermögen auszuschalten. An jenem 16. Oktober 1846 gelang es erstmals, einem Patienten unter Vollnarkose einen Tumor am Hals zu entfernen.
Es begann mit Ätherdämpfen
Den Fortschritt hatte der Zahnarzt William Thomas Green Morton im Massachusetts General Hospital in Boston, USA, gebracht: Er ließ den Patienten schlafbringende Ätherdämpfe einatmen. „Man kann dies als Geburtsstunde der modernen Anästhesie bezeichnen“, sagt der Stuttgarter Anästhesie-Experte Andreas Walther.
Schon viel früher wurde versucht, das Schmerzempfinden zu dämpfen: In der Bibel findet sich im Buch Genesis ein Hinweis darauf, dass Menschen bei schweren Verletzungen betäubt wurden. In der Antike experimentierte Hippokrates mit Mohnsaft und Hanf. Später nutzte man weitere Pflanzenextrakte, die den Patienten so lange eingeflößt worden sind, bis sie das Bewusstsein verloren.
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Pioniere am Skalpell
Im Oktober 1804 gelang dem japanischen Arzt Hanaoka Seishu eine Brustkrebsoperation bei einer Frau, die er zuvor mithilfe von Alraune und Stechapfel in einen künstlichen Schlaf versetzt hatte. Vielen anderen bekamen diese Mixturen aus pflanzlichen Alkaloiden allerdings weniger: Aufgrund der schwierigen Dosierung war das Schmerzempfinden nie komplett ausgeschaltet – oder aber die Patienten wurden regelrecht vergiftet.
In der Kriegsmedizin wurde nicht viel Zeit auf die Narkose verwendet: Da wurde dem Verwundeten ein Holzstab zum Draufbeißen in den Mund geschoben, bevor man mit Alkohol zu betäuben versuchte. Im Winter profitierten die Verletzten von Eis und Schnee, womit die Ärzte die zu versorgenden Körperregionen kühlten und den Schmerz dämpften.
„Gentlemen, das ist kein Humbug!“
Im Massachusetts General Hospital war an jenem Herbsttag 1846 kein Mucks von dem betäubten Patienten zu hören. Im Anschluss soll der Chirurg John Collins Warren zu den Anwesenden gesagt haben: „Gentlemen, das ist kein Humbug!“ Ein Jahr danach wurde die Äther-Narkose in Deutschland angewandt.
Heutzutage werden in deutschen Krankenhäusern pro Tag weit über 40 000 Narkosen ausgeführt, davon hauptsächlich Vollnarkosen. Hinzu kommen Tausende weiterer Narkosen in Arztpraxen und Behandlungszentren.
Längst haben sich andere Medikamente in der Anästhesie etabliert: „Allein in den deutschen Krankenhäusern werden pro Tag weit über 40.000 Narkosen ausgeführt. Hinzu kommen tausende weiterer Narkosen in Arztpraxen und Behandlungszentren. Längst haben sich andere Medikamente in der Anästhesie etabliert: „Zur Einleitung wird in der Regel zunächst ein Opioid, also ein Schmerzmittel, verwendet“, erklärt der Stuttgarter Anästhesist Andreas Walther.
Anästhesisten: Schwere Zwischenfälle sind selten
Dazu gibt es ein Einschlafmittel, ein sogenanntes Hypnotikum und eventuell auch ein Medikament zur Erschlaffung der Muskeln, Muskelrelaxans genannt. Im weiteren Verlauf der Narkose setzt der Anästhesist häufig ein Narkosegas zur Aufrechterhaltung der Vollnarkose ein. Der Patient schläft bei einer Narkose innerhalb weniger Sekunden ein, schläft dann sehr tief und wacht erst wieder auf, wenn die Operation vorüber ist.
Der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) zufolge ist die Zahl schwerer Zwischenfälle durch eine Narkose so niedrig, dass sie kaum messbar ist. Zu verdanken ist dies der modernen Medizintechnik, die der Anästhesie zusätzlich zur Verfügung steht: So können neben der standardisierten Blutdruckmessung und dem EKG, um die Herzfrequenz zu überwachen, auch die Hirnströme per EEG ausgewertet werden. Experten nennen dies „Narkose-Monitoring“.
Was lässt sich noch verbessern?
Um den künstlichen Schlaf noch sicherer werden zu lassen, wird daran geforscht, die Beatmung der Lunge während der Operation zu verbessern. Ein weiteres Augenmerk liegt auf dem Verhindern von Delir-Zuständen, die gerade bei älteren Patienten nach einer Narkose auftreten können.
Bei der Zwölfjährigen, die wegen ihres monströsen Tumors notoperiert wurde, hat die moderne Anästhesie dafür gesorgt, dass der Eingriff gut gelaufen ist: Das Mädchen ist planmäßig aufgewacht und hat sich so rasch erholt, dass es zwei Wochen später nach Hause gehen durfte.
Lesen Sie aus unserem Plus-Angebot: Das passiert auf einer Covid-19-Intensivstation