Schwer bewaffnet sichert die Polizei am Freitag den Tatort. Der Täter ist noch auf der Flucht. Foto: SDMG/ Friebe

40-Jähriger tötet drei Menschen. Eigener Sohn unter Opfern. Tatverdächtiger weiter auf Flucht.

Villingendorf - Als die ABC-Schützen der kleinen Gemeinde Villingendorf im Landkreis Rottweil am Donnerstag fröhlich ihre Einschulung feiern, ist die Welt noch in Ordnung. Die Eltern strahlen, die Kinder tragen stolz ihre Schultüten. Stunden später ist eines der Kinder tot. Offensichtlich erschossen von Drazen D. (40), dem eigenen Vater. Die Mutter kann sich retten, zwei weitere Erwachsene, der Lebensgefährte (34) der Mutter und eine 29-Jährige, nach ersten Erkenntnissen die Cousine des Lebensgefährten, werden ebenfalls getötet. Später wird ein dreijähriges Mädchen, wohl die Tochter der getöteten 29-Jährigen, in einem Schrank in der Wohnung gefunden: Es hatte sich versteckt. Die Mutter des Sechsjährigen kann sich zu einer Nachbarin retten und der Polizei später Angaben zum Tathergang machen. Sie wird psychologisch betreut, am Abend sind Seelsorger vor Ort.

Und am Tag danach kristallisiert sich heraus, dass die Mutter des Jungen wohl gar nicht so unbeschwert Einschulung gefeiert hat, wie es den Anschein hatte. Sie hat sich vor ihrem Ex-Mann gefürchtet, ist erst vor wenigen Monaten nach Villingendorf gezogen. In Kindergarten und Schule soll sie betont haben, dass niemand anderes den kleinen Sohn abholen darf. Der 40-jährige Täter ist schon mehrfach polizeilich aufgefallen. Er sei wegen Körperverletzungsdelikten und Bedrohungsdelikten vorbelastet, heißt es. Zu Haftstrafen sei er aber nicht verurteilt worden. Nicht offiziell bestätigt ist, dass es sich um einen Ex-Soldaten handeln soll.

Das sagt der leitende Oberstaatsanwalt der Staatsanwaltschaft Rottweil zu den Vorstrafen des Täters:

Auf seiner öffentlichen Facebook-Seite präsentiert sich D. als stolzer Familienvater. Dutzende Fotos von seiner Frau und dem Sohn sind nicht nur für Freunde, sondern für alle einsehbar. Schwimmbadbesuche, Weihnachten, dazwischen Fotos von ihm als kroatischer Fußballfan oder beim Gleitschirmfliegen. Ein Bild zeigt, wie der fünfte Geburtstag des Sohnes im Sommer vergangenen Jahres gemeinsam gefeiert wird. Der Junge strahlt in die Kamera, vor ihm ein großer Geburtstagskuchen. Ein anderes Bild zeigt den 40-Jährigen im Herbst 2016 stolz mit seiner Frau im Arm vor dem Parkhaus Zentrum in Tuttlingen. Im Nachbarlandkreis hat die Familie unseren Informationen zufolge zuvor gelebt. Es ist das letzte gemeinsame Foto.

Opfer hatten offenbar keine Chance, zu entkommen

Am Abend der Einschulung seines Sohnes, die seine Ex-Frau mit ihrem Lebensgefährten und weiteren Verwandten der Familie feiert, fährt der 40-Jährige nach Villingendorf zur Einliegerwohnung im beschaulichen Wohngebiet. Seit wann er wusste, wo die Frau sich aufhält, ist nicht bekannt. Sie erwartet offensichtlich wieder ein Kind. Er feuert aus einer Langwaffe, wohl aus Beständen der ehemaligen jugoslawischen Armee, berichtete die Polizei bei der Pressekonferenz am Freitagnachmittag. Die Opfer hätten keine Chance gehabt, ihm zu entkommen.

Der Tatort liegt in einer ruhigen Wohnsiedlung. Nette Häuser und gepflegte Gärten reihen sich aneinander. Hier hat sich die Ex-Frau des Täters ein neues Zuhause gesucht, eine Einliegerwohnung gemietet. Jetzt hat die Polizei die Straße weiträumig abgesperrt. Ein massives Polizeiaufgebot ist in der Region unterwegs. Schwer bewaffnete Einsatzkräfte sind zu sehen. Der Krisenstab der Polizei wird im örtlichen Sportheim eingerichtet, der Hubschrauber kreist den ganzen Tag über Villingendorf.

Die Fahndung läuft auf Hochtouren. Die Polizei veröffentlicht ein Bild und die Beschreibung des flüchtigen Täters: dunkle, kurze Haare, braune Augen und dünne Lippen, 1,77 Zentimeter groß, zuletzt mit einer schwarzen, längeren Jacke bekleidet. Zunächst wird auch nach dem Auto gefahndet, einem grünen Seat Ibiza, möglicherweise mit einem Kurzzeit-Kennzeichen mit KN-Zulassung. Meldungen gehen ein, wonach das Auto am Bodensee gesehen worden sein soll. Doch das stellt sich als falsch heraus. Der Wagen wird im Nachbarort Herrenzimmern gefunden. In einem Wald in der Nähe des Tatorts sollen am frühen Morgen Schüsse gefallen sein. Nähere Erkenntnisse dazu gibt es aber vorerst nicht.

Die Gemeinde steht unter Schock. Entsetzen und Mitgefühl sind groß. "Dass so etwas bei uns passiert – einfach unfassbar", sagt eine Frau, die unweit des Tatorts wohnt. Sie habe die Schüsse am Abend gegen 21.30 Uhr gehört. Dreimal habe es geknallt. Sie habe vermutet, dass irgendwo gefeiert wird. "An was Schlimmes denkt man doch bei uns nicht." Vor allem der Tod des Kindes beschäftigt die Menschen und treibt vielen die Tränen in die Augen. "Ich habe selbst einen sechsjährigen Enkel. Es ist so furchtbar", sagt eine Passantin.

Mehr Stimmen von Anwohnern gibt es im Video:

Auch der langjährige Bürgermeister Villingendorfs, Karl-Heinz Bucher, ist fassungslos. "So etwas haben wir in unserer Gemeinde noch nie erlebt und wollten es auch nie erleben. Ich bin bestürzt", sagt er. Er war die halbe Nacht auf den Beinen, das Telefon klingelt unaufhörlich, gerade wurde er von einem Fernsehsender interviewt, das nächste Team wartet schon. Er ist froh, dass die Menschen in der Gemeinde in diesen Stunden zusammenhalten.

Menschen in Villingendorf sind fassungslos

Gleich in der Nacht hat der örtliche Zimmereibetrieb seine Halle für die Einsatzkräfte geöffnet, die Feuerwehr hat für die Verpflegung gesorgt. Um den Einsatzkräften die Arbeit zu erleichtern und das Sicherheitsgefühl zu erhöhen, wurden um 1 Uhr nachts die Straßenlampen im Ort wieder angeschaltet. Bucher betont, dass die Menschen bei aller Betroffenheit nicht in Hysterie ausgebrochen seien. Man vertraue auf den Schutz der Polizei, sagt er.

Mit Schule, Kindergarten und der Polizei wird in den frühen Morgenstunden abgestimmt, ob das normale Leben im Ort weitergehen soll – oder eben nicht. Eltern sind besorgt, die Polizei richtet ein Bürgertelefon ein. Es wird entschieden, Schule und Kindergarten zu öffnen. Eine akute Gefahrenlage besteht nicht, erklärt die Polizei. Etliche Kinder kommen dann doch nicht zur Schule. Die Bestürzung ist zu groß.

"Bei uns war heute Morgen aufgebrachte Stimmung. Meine Kinder wollten zuerst nicht zur Schule", erzählt eine junge Mutter, deren Kinder in die dritte und vierte Klasse an der Grund- und Werkrealschule in Villingendorf gehen. Wie sie warten viele Eltern vor der Schule, um ihre Kinder abzuholen. "Wir haben ihnen gesagt, dass wir sie hinbringen und wieder abholen. Und dass sie in Sicherheit sind." Eine andere Mutter eines 15-jährigen Jungen ist bestürzt. "Man denkt, das passiert einem nie, nicht in der Nähe. Man ist einfach geschockt. Dass ein Vater seinem Sohn so etwas antut, ist unfassbar."

So sieht es auch Rektor Rainer Kropp-Kurta. Er spricht mit den Eltern, die ihre Kinder abholen, verabschiedet sich von den Schülern und wartet, bis der Schulhof leer ist. "Wir haben versucht, den neuen Erstklässlern trotzdem einen schönen ersten Schultag zu ermöglichen", sagt er. Es sei dramatisch, was passiert ist, "aber wir müssen einen kühlen Kopf bewahren und Sicherheit vermitteln. Unsere erste Verantwortung gilt unseren Schülern." Man stehe mit Schulsozialarbeitern und dem schulpsychologischen Dienst zur Verfügung, wenn das Thema bei den Schülern aufkommen sollte. Das sei bisher aber noch nicht passiert. "Der Junge ging nicht hier in den Kindergarten", sagt Kropp-Kurta. "Viele kannten ihn nicht."

"Erst wenn der Verdächtige gefasst ist, kehrt wieder Ruhe ein"

In der ganzen Region hoffen die Menschen, dass der Täter schnell gefunden wird. "Erst dann kann wieder Ruhe einkehren", weiß der Bürgermeister. "Es ist doch ein mulmiges Gefühl", sagt eine Mutter, die mit dem Kinderwagen unterwegs ist. Immer wieder fährt ein Einsatzwagen vorbei. "Hoffentlich schnappen sie ihn bald."

Bürgermeister Karl-Heinz Bucher über den Zusammenhalt im Ort:

Während die Fahndung weiter läuft, konzentriert sich die Suche vor Ort am frühen Freitagabend auf das Waldstück, aus dem am Morgen Schüsse gehört worden sind. "Jetzt geht es darum, das Gebiet lückenlos zu durchkämmen", sagte ein Polizeisprecher am Nachmittag. Man hoffe zudem weiter auf Hinweise aus der Bevölkerung. Ob der Täter noch lebt, sei nicht gesichert. Am Abend wird die Suche vor Ort unterbrochen. Derweil wird an den Grenzen zu Frankreich, Österreich und der Schweiz laut Polizei schärfer kontrolliert. Auch im benachbarten Bayern sind weitere 100 Beamte im Einsatz, um eine mögliche Flucht des mutmaßlichen Täters – womöglich nach Kroatien – zu vereiteln.