Kirche mitten in der Stadt: Dafür steht das Muslenzentrum. Und für Klaus Gölz, den geschäftsführenden Pfarrer der evangelischen Kirchengemeinde Schwenningen, ist das ein Pfund, mit dem seine Gemeinde wuchern sollte. Fotos: Parage/Herfurth (1) Foto: Schwarzwälder Bote

Glaube: Evangelische Kirchengemeinde steht vor Herausforderungen / Visitation liefert Anlass für mögliche Neuausrichtung

VS-Schwenningen. Während der Visitation nimmt eine Kirchengemeinde sich selbst in den Blick: In dieser Situation befindet sich die evangelische Kirchengemeinde Schwenningen gerade. Dabei will sie nicht im Ist-Zustand verharren, sondern fit für die Zukunft werden. Von den künftigen Herausforderungen und den damit verbundenen Chancen spricht der geschäftsführende Pfarrer Klaus Gölz im Interview mit unserer Zeitung.

Herr Gölz, werden Sie als Pfarrer nervös, wenn eine Visitation bevorsteht?

Man wird nervös, weil sehr viel zu tun ist, aber nicht wegen der Aufsicht und Kontrolle. Wir, der Dekan und seine Pfarrer, gehen im Kirchenbezirk so miteinander um, dass man keine Angst haben muss. Ich betrachte den Moment gerade als sehr guten für die Visitation, weil wir ohnehin an der Frage dran sind: Wie entwickelt sich unsere Gemeinde, wenn die Pfarrstellen reduziert werden, weil die Kirchengemeinde kleiner wird? Insofern kommen da zwei Prozesse zusammen, die ineinander greifen.

Was bedeutet die Visitation für Ihre Kirchengemeinde?

Zunächst einmal geht es darum, sich selber wahrzunehmen. Wir haben viele Arbeitsfelder, die zum Teil nebeneinander her laufen. Die einzelnen Mitarbeiter und Mitglieder haben häufig nur ihren Bereich im Blick. Die Visitation kann helfen, dass man wahrnimmt: Wir gehören bei aller Unterschiedlichkeit zusammen. Das andere Thema ist die Entwicklung: Wohin könnte es gehen? Wir sind in einer Umbruchsituation – durch wegfallende Pfarrstellen und den demografischen Wandel. Wie können wir weiter Gemeinde sein? Mit Arbeitsverdichtung geht es nicht mehr. Wie also können wir die Struktur unserer Gemeinde ändern, damit sie zukunftsfähig ist? Das macht bei aller Arbeit durch die Visitation den Reiz aus: Mal zu gucken, wo es hingeht. Das geht im Alltag oft unter.

Wo liegen ihre Schwerpunkte heute?

Ein großer Schwerpunkt ist die Arbeit in den Kindertagesstätten. Wir haben etwa 300 Plätze für Kinder, das ist sowohl religionspädagogische als auch diakonische Arbeit. Der andere große Schwerpunkt ist die Diakonie. Das ist für Schwenningen typisch. Dass eine Gemeinde sich so engagiert, ist nicht selbstverständlich. Ein breites Feld: Ganz wichtig ist unsere Beratungsstelle. Wir wollen Bedürftige und Hilfesuchende unterstützen, wo es geht. Und wir haben die Vesperkirche in der Pauluskirche. Das ist eine tolle Arbeit, wo Menschen aus verschiedenen Milieus zusammenkommen. Sie wird von vielen helfenden Händen mitgetragen. Zur Diakonie gehört natürlich auch der Krankenpflegeverein, der die Arbeit des ambulanten Pflegedienstes "Diakonie ambulant" unterstützt. Dann kam das Jahr 2015. Seither gibt es die ökumenisch verantwortete Flüchtlingshilfe mit dem Arbeitskreis Asyl und einer hauptamtlichen Mitarbeiterin bei der Diakonie. Nachdem der Ansturm zurückging, taten sich ganz neue Aufgabegebiete auf: die Integration der Flüchtlinge in Arbeit und Alltag. Natürlich gibt es auch noch die Jugendarbeit – die gerade etwas leidet, weil wir die Hauptamtlichenstelle mangels passender Bewerber nicht besetzen können –, die Hochschulseelsorge ist eine wichtige Arbeit und die Kirchenmusik. Wir haben einen Kantor und mehrere Chöre. Und wir machen sehr vieles ökumenisch. Dazu kommt die enge Zusammenarbeit mit Villingen.

Vor welchen Herausforderungen steht die Kirchengemeinde?

Wie in allen Kirchengemeinden macht sich der demografische Wandel bemerkbar. Die Gemeinde wird im Durchschnitt älter und kleiner. Parallel dazu wird die Finanzkraft abnehmen. Damit geht ein Rückgang der Pfarrstellen einher. Bis 2024 müssen wir eine 75-Prozent-Stelle einsparen, bis 2030 wahrscheinlich noch eine weitere. Da muss man jetzt schauen: Welche Arbeit kann weiterlaufen? Mit welchen Mitteln können wir was betreiben? Jetzt ist zu überlegen: Wo sind in diesen Veränderungen die Chancen? Und auf was wollen wir 2030 auf keinen Fall verzichten? Zudem ist die Frage, wie wir Leute dazu einladen können, sich in der Gemeinde zu engagieren. Früher haben die Ehrenamtlichen oft in jungen Jahren angefangen, sich zu engagieren und blieben dann jahrzehntelang dabei. Diese Kontinuität kann man nicht mehr erwarten. Wir müssen mehr von den Interessen und Gaben der Menschen her denken und nicht von den Aufgaben her. So wie wir jetzt unter Schmerzen erkennen: Es gibt momentan keine Kinderkirche mehr, weil es niemand mehr macht. Das erfordert von der Kirchengemeinde natürlich Flexibilität.

Wie erleben Sie ihre Mitglieder: Wollen sie mitreden, wenn es um die Zukunft ihrer Gemeinde geht?

Die Leute, die Verantwortung hier tragen, zum Beispiel die Kirchengemeinderäte und die Pfarrerinnen und Pfarrer, haben große Lust weiterzudenken. Aber ich fand es beim Gemeindeforum auffällig, dass auch Leute dabei waren, die im Alltag der Gemeinde kaum präsent sind. Es sind schwierige Entscheidungen, die anstehen. Da sind wir miteinander auf einem guten Weg, weil der Gestaltungswille da ist.

Welches Thema denken Sie gerade weiter?

Wir haben drei Kirchen und Gemeindezentren. Eine Überlegung ist, ob wir diese drei Standorte mit drei Schwerpunkten belegen. Zum Beispiel könnte die Johanneskirche ein Ort für Jugend- und Familienarbeit sein, die Pauluskirche eine Art geistliches Zentrum, wo man etwa Meditation und verschiedene Gottesdienstformen anbietet, und die Stadtkirche ein Ort der Begegnung für verschiedene Gruppen. Das ist eine Möglichkeit, an die wir denken. Wir können nicht an allen Standorten alles anbieten. Ein weiteres Thema: Wie können wir im Muslenzentrum Begegnungsräume schaffen? Wir sind mitten in der Stadt. Mit diesem Pfund müssen wir wuchern. Wo können sich Leute andocken, ohne sich verbindlich zu etwas verpflichten zu müssen? Solche Räume der Begegnung und Entwicklung muss man schaffen.

Kommt die Kirche in Schwenningen noch an?

Wir sind Gemeinde in einer Stadt. Viele arbeiten mit, viele bleiben relativ distanziert. Die erreicht man mit bestimmten Angeboten. Die Kulturbeflissenen freuen sich, wenn Kantor Christof Wünsch mit dem Chor eine Bachkantate aufführt. Andere arbeiten in der Vesperkirche mit, woanders sieht man sie aber nicht. 2015, angesichts der Flüchtlingskrise, war es erstaunlich zu sehen, was für Kräfte da zusammengekommen sind. Wir mussten nur einen Raum bieten. Da erreicht man auch Leute, die die Kirche sonst nicht erreicht.

Wo sehen Sie Ihre Gemeinde im Jahr 2030?

Sie ist kleiner. Sie tritt selbstbewusst auf, weil sie das, was sie macht, bewusst tut. Und sie ist sehr flexibel. Mein Traum ist auch, dass sie nicht mehr so Pfarrer zentriert ist. Durch die gute Finanzlage in den 1980er- und 90er-Jahren wurde vieles hauptamtlich gemacht. Das wird sich in Zukunft ändern – was positiv oder negativ sein kann. Darüber hinaus wird es das in der Gemeinde geben, wofür Menschen bereit sind, sich einzubringen. Es kann nicht mehr flächendeckend alles angeboten werden. Eher geht es darum, im wörtlichen wie im übertragenen Sinn Räume zu schaffen, wo etwas entstehen kann. Das ist die Aufgabe der Gemeinde.   Die Fragen stellte Verena Parage.

Kirchengemeinde Die evangelische Kirchengemeinde Schwenningen gehört dem Kirchenbezirk Tuttlingen an. Außerdem ist sie, anders als das badische Villingen, Teil der württembergischen Landeskirche. Mit 9500 Mitgliedern ist sie deren größte Kirchengemeinde. Insgesamt sind sechs Pfarrer in Schwenningen tätig: Neben dem geschäftsführenden Pfarrer Klaus Gölz (Pfarramt Stadtkirche I), seit September 2015 im Amt, sind dies Andreas Güntter (Stadtkirche II), Karin Ott (Stadtkirche III) sowie Brigitte Güntter (Pfarramt Pauluskirche), Simon Ziegerer (Johanneskirche I) und Märit Kaasch (Johanneskirche II). Dazu kommt Elke Schott, die die Krankenhauspfarrstelle Villingen-Schwenningen inne hat.  V isitation Etwa alle acht Jahre findet in Kirchengemeinden die sogenannte Visitation statt. Pfarrer Klaus Gölz beschreibt sie als "Instrument des kirchenleitenden Handelns". Ziel ist dabei, gemeinsam innezuhalten und wahrzunehmen, was es in der Gemeinde gibt. Gleichzeitig wird geschaut, wohin sich die Gemeinde entwickeln kann. Die Visitation findet unter der Leitung des Tuttlinger Dekans Sebastian Berghaus und von Schuldekanin Amrei Steinfort statt. Sie überprüfen zugleich, ob in der Kirchengemeinde formal alles richtig läuft. Den Auftakt der Visitation in Schwenningen markierte Mitte Oktober eine Veranstaltung, das Gemeindeforum, im Muslenzentrum. Ein Podiumsgespräch, um den Blick von außen auf die Kirchengemeinde zu schärfen gehörte genauso dazu wie Diskussionen in kleinen Gruppen zu verschiedenen Themen. Dies unter dem Motto "Chancen im Umbruch".