Kriegsende 1918/19: Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot / Erstmals spricht eine Frau auf Versammlung

Lebensmittelmarken, Arbeiter- und Soldatenräte, Arbeitslosigkleit sowie die damals grassierende spanische Grippe, bei der viele Menschen starben, prägten zum Jahresende 1918 auch die Situation in Villingen und Umgebung.

Schwarzwald-Baar-Kreis. Am 11. November 1918 meldete das damals erscheinende Villinger Volksblatt, die Waffenstillstandsbedingungen seien in Kraft getreten. "Die Feindseligkeiten werden an der ganzen Front vom 11. November, 11 Uhr mittags an eingestellt." Der deutsche Kaiser, seine Frau und der Kronprinz sollen in Holland interniert werden, der König von Sachsen wird abgesetzt. Der Großherzog von Baden verzichtet bis zur Entscheidung der Nationalversammlung auf die Ausübung seiner Regierungsgewalt.Die Nationalversammlung soll am 5. Januar gewählt werden. Überall gründen sich Arbeiter- und Soldatenräte, die die Macht übernehmen. Auch in Villingen. Eine erste Verordnung der neuen Volksregierung besagt, dass Waffen und Munition aus militärischen Beständen abgeliefert werden müssen. Bei Zuwiderhandlung droht Gefängnis.

In Schwenningen gibt es, so eine Meldung vom 13. November, vom Bahnhof aus einen Umzug mit Musik und roten Fahnen, an dem sich die Arbeiter sämtlicher Fabriken beteiligen. Auf dem Rathaus wird die rote Fahne gehisst. Der Stadtvorstand gibt eine Erklärung ab, dass er sich mit seinen Beamten auf dem Boden der neuen Regierung befinde.

Zur gleichen Zeit wird in Donaueschingen in der Donau eine unbekannte männliche Leiche mit nahezu 3000 Mark gefunden.

Das Städtische Gaswerk in Villingen richtet die dringende Bitte an die Konsumenten, den Stromverbrauch in den Abendstunden einzuschränken. "Von Laufenburg ist uns jetzt Stromsperrung angedroht." Einen Blick auf die damalige Ernährung gewährt die Lebensmittelverteilung im Dezember: Stockfische, Dörrobst, Bohnen, Spinat, Karotten, Sardinen, Nährmehl und Zucker. Und ein Rezept für Kohlrabi: Für vier Personen sechs bis acht Knollen, ein Teelöffel Plantur, ein Viertelliter Milch oder Wasser, ein Teelöffel Mehl, ein Teelöffel Butter.

Am 14. November tagte das Villinger Stadtparlament zum ersten Mal "unter der neuen Ära". Das "Außerordentliche der Sitzung" wurde deutlich daran, dass am Tische des Vorsitzenden der Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrates Platz nahm. Bürgermeister Lehmann gab dann die Forderungen des Arbeiterrates bekannt. Dieser wünschte unter anderem zwei Gemeinderatssitze und die "Anstellung eines Arbeiters beim Lebensmittelamt zwecks Ausübung einer Kontrolle hinsichtlich der gerechten Verteilung". Außerdem forderte der Arbeiterrat die Weiterbeschäftigung der Arbeiter seitens der Arbeitgeber. Weitere Forderungen waren, dass Beamte und Angestellte des Lebensmittelamtes "bei grober Behandlung des Publikums" entlassen werden sollten und dass die Volksküche in eine Kriegsnotstandküche umgewandelt werden solle. Der Vorsitzende des Arbeiter- und Soldatenrates, ein Hauptmann Gnau, stellte dar, dass der Arbeiter- und Soldatenrat "diktatorische Gewalt" habe und seine Hauptaufgabe in der Aufrechterhaltung der Ordnung bestehe. Im Gemeinderat wird die Forderung laut, dass alle Berufsstände und auch die Eisenbahner, Beamten und Bauern im Arbeiterrat vertreten sein sollten.

Am 20. November trifft sich der zum Gedächtnis von Joseph Victor von Scheffel gegründete Scheffelclub zum ersten Mal im Gasthaus "Löwen" in Villingen. Anlass ist ein Aufsatz, in dem Scheffels Beziehungen zu Rietheim geschildert werden.

Die berüchtigte "Spanische Grippe" grassiert in dieser Zeit und kostet viele Menschenleben. Unter anderem das des Dauchinger Bürgermeisters Adolf Schneider, wie das Volksblatt am 19. November meldet. Nachfolger wird sein Bruder Franz Schneider. Zum Verlauf der Grippe schreibt die damals erscheinende Zeitung: "Die Grippe befällt vornehmlich gesunde, kräftige Menschen, bei denen man annehmen kann, dass sie keinen Mangel an Kalksalzen haben. Vor allem wird das Alter zwischen 15 und 30 Jahren betroffen, während Leute, die eine Anlage zur Tuberkulose haben oder sonst wie durch Unterernährung geschwächt sind, also nachweislich einen Mangel an Kochsalzen haben, nicht in dem Umfang betroffen werden. Die Kranken haben in diesen Tagen ein Fieber, das morgens und abends sich in der Kurve zwischen 30 und 40 Grad bewegt. Das Auffallende ist, dass das Herz dabei kräftig bleibt. Der Tod tritt durch Lungenödem ein."

In Peterzell nimmt sich eine Bauersfrau das Leben, "aus Furcht, die Franzosen könnten kommen", wie das Volksblatt am 20. Dezember meldet. Der Soldatenrat entbietet den heimgekehrten Truppen einen Gruß per Anzeige: "Auch in der Heimat werden wieder große und schwierige Aufgaben an euch herangetragen".

Inzwischen werden Stimmen laut, die dem Arbeiter- und Soldatenrat "unerhörte Verschwendung" vorwerfen.

Im Dezember eröffnet die Zentrumspartei den Reigen der Wahlversammlungen zur Nationalversammlung. Diese findet am 8. Dezember in der "Tonhalle" in Villingen statt. "Zum ersten Mal spricht in Villingen eine Frau auf einer politischen Versammlung", meldet das Volksblatt am 6. Dezember. Es handelt sich um Frau Geheime Regierungsrätin Siebert, der der "Ruf einer ausgezeichneten Rednerin" vorausgehe. "Durch ihre langjährige Tätigkeit in sozialen Frauenorganisationen ist sie bereits weit über Badens Grenzen hinaus bekannt geworden. Keine Frau sollte es deshalb versäumen, diese Veranstaltung zu besuchen." Als Redner sind außerdem Finanzminister Wirth und Abgeordneter Görlach von der Zentrumspartei mit von der Partie.

Nicht alle dürfen mitwählen. Das Innenministerium bestimmt, dass das Wahlrecht bei denjenigen Personen ruht, denen die bürgerlichen Ehrenrechte abgesprochen sind und bei Personen, die entmündigt sind.

Der Turnerbund in Villingen appelliert an alle: "Kommt wieder zum Turnen! Belebt die Stätten wieder, an denen ihr so herrliche Stunden zugebracht habt."

Das Villinger Volksblatt freut sich, dass das "Amtsverkünder-Monopol" in Baden zum 31. Dezember 1918 verschwinden soll: "Endlich ist der Ring gesprengt, der einseitig die Verleger einer bestimmten politischen Richtung bevorzugt hat."

Im Dezember 1918 wird klar, dass "die Rückkehr zahlreicher Kräfte aus dem Heeresdienst" das "Übel der Arbeitslosigkeit" ausgelöst hat.

Das Bürgermeisteramt ordnet an, dass in erster Linie die aus dem Heeresdienst entlassenen Personen, die Familienväter oder Ernährer einer Familie sind, eingestellt werden sollen. Für Entlassungen gibt es eine Reihenfolge: Auswärtige, nicht in Villingen wohnende Personen, ledige weibliche Personen aus Villingen, verheiratete Frauen, deren Männer nun zurückgekehrt sind und Männer, die vor dem Krieg ein eigenes Geschäft betrieben haben. Offene Stellen damals im Arbeitsamt gibt es für Schuhmacher, Schneider und Dienstmädchen.

Dem stehen Stellensuchende aus anderen Bereichen gegenüber: Kaufleute, Zeichner, Bürodiener, Knechte, Uhrmacher, Maler, Bäcker und Hilfsarbeiter unter anderem.

In Schwenningen ereignet sich im Dezember eine Explosion eines Kessels in der Kriegsküche. Zwei Frauen sterben, eine dritte schwebt in Lebensgefahr.

Viele Anzeigen in der damals erscheinenden Zeitung bezeugen, dass es eine Wohnungsnot gegeben haben muss. Sowohl Familien als auch Singles suchen. Laut einer amtlichen Bekanntmachung wird für die Stadt Villingen ein öffentlicher Wohnungsnachweis mit Meldezwang eingerichtet.

In den Kinos laufen derweil Filme mit beruhigendem Inhalt: Zum Beispiel "Goldelse" nach einem Roman von Marlitt oder"Was man aus Liebe tut." Auch "Der Schandfleck", "Die Flaschengeister" oder "Wenn frei das Meer für Deutsche Fahrt" sind zu sehen. Das Lichtspielhaus Villingen zeigt außerdem ein Drama aus dem Künstlerleben und den damals neuen Stummfilm "Ich möchte kein Mann sein" von Ernst Lubitsch. Lubitsch ist später mit Komödien, unter anderem mit Greta Garbo, als Regisseur in Hollywood berühmt geworden.