Villingen-Schwenningen/Hechingen/Meßstetten/Ellwangen - Riesige Lastwagen mit Feldbetten, Schlafsäcken und Versorgungsmaterial sorgen für Aufsehen. Vor allem, weil viele Anwohner noch nichts von den "neuen Nachbarn" wissen, die kurzfristig einziehen werden. "Diese Informationspolitik kotzt mich an", ärgert sich ein Anwohner über die kurzfristige Ankündigung seitens der Behörden. "Dabei hat man uns versprochen, dass wir besser informiert werden!" Es geht wieder einmal um Flüchtlinge.

"In dem Vierteljahr, als die dort gewohnt haben, war es hier so sauber wie noch nie"

Der Andrang der Hilfesuchenden im Südwesten lässt nicht nach – das bekommt auch Villingen-Schwenningen zu spüren. Denn weil drei Landeserstaufnahmestellen (Lea) und die bedarfsorientierten Einrichtungen aus allen Nähten platzen, kommen heute, Samstag, bis zu 200 Flüchtlinge in leer stehende Wohnblöcke der französischen Streitkräfte im Schwarzwald-Baar-Kreis.

Erst im Februar hatte man dort Unterkünfte bereitgestellt und fast 400 Menschen untergebracht. "Das war eine überaus kurzfristige Entscheidung – als mir das am Donnerstag gesagt wurde, stand ich gerade während eines Betriebsausflugs auf einem Vogesenberg", wurde Markus Adler, Pressesprecher des Regierungspräsidiums, von der neuen Nachricht überrascht. Am Freitag bevölkerten rund 90 Helfer der Feuerwehr, des Technischen Hilfswerk und des Roten Kreuzes die Wohnblöcke, um alles für die Ankunft der Flüchtlinge vorzubereiten.

Herkunft der Flüchtlinge

Dem stimmt auch Nachbarin Helga Müller zu: "Wir haben Mitleid mit ihnen!" Sie stört es nicht, dass nun erneut 200 Hilfesuchende ankommen, "auch wenn wir dadurch eingeschränkt werden." Denn die Straße wird während der Vorbereitungen komplett gesperrt, Häuser können nicht mehr angefahren werden, Parken ist nicht mehr möglich. Doch diese Einschränkungen nehmen die Anwohner in Kauf. "Wenn man sieht, was beispielsweise in Syrien passiert, dann ist es eine Notwendigkeit, dass diese Menschen hier Zuflucht finden", bringt es ein weiterer Mann auf den Punkt. Und wie lange werden die Wohnblöcke in Villingen benötigt? "Alles, was über einen Tag prognostiziert wird, ist Kaffeesatzleserei", will sich Pressesprecher Adler hierzu nicht äußern.

Hechingen im Zollernalbkreis wird wegen der aktuellen Überfüllung in den Aufnahmestellen ebenfalls eine noch nicht näher bestimmte Zahl von Flüchtlingen aufnehmen – das gab gestern Bürgermeisterin Dorothea Bachmann bekannt. Untergebracht werden sie in einem Seitentrakt der ehemaligen Hechinger Klinik, der zum Abriss vorgesehen ist. Es gibt hier etwa 30 Zimmer, die als Wohnräume genutzt werden können. Die Sanitäranlagen dort lassen sich mit wenig Aufwand reaktiveren. Damit keine Gerüchte ins Kraut schießen, wird für die Hechinger am Mittwoch in der Stadthalle ein Informationsabend angeboten.

"Wir müssen Feldbetten aufstellen, es mangelt an Bettzeug, wir nutzen Schlafsäcke"

Auch in der Meßstetter Lea kommen immer mehr Menschen an. 1420 Asylsuchende beherbergt die Landeserstaufnahmestelle auf der Schwäbischen Alb, die ursprünglich für maximal 1000 Menschen ausgerichtet war. Das führe zu "drastischen Personalengpässen" im Betrieb und in der Betreuung der Flüchtlinge sowie zu einer "zunehmend angespannten Situation" in der Kernstadt Meßstetten, sagt Landrat Günther-Martin Pauli (CDU). Dem stimmt der Leiter der Lea, Frank Maier, zu: "Es fehlt an allen Ecken. Die Verfahrensberatung kommt nicht hinterher, die Küche, die Sitzplätze gehen aus, wir müssen Feldbetten aufstellen, es mangelt an Bettzeug, so dass wir auf Schlafsäcke zurückgreifen müssen."

Doch nicht nur an Materiellem fehlt es. "Wir sind am Rande mit allem, vor allem mit der Personaldecke und der Belastbarkeit der Mitarbeiter", betont Maier. Zusätzliches Personal sei notwendig, aber das lasse sich nicht aus dem Boden stampfen: "Die Mitarbeiter sind am absoluten Limit." So befürchtet der Leiter, dass es zu Ausfällen beim Personal kommt. Gleichzeitig sieht er auch den Ort am Rande der Aufnahmekapazität und hofft, dass die bislang zumeist positive Stimmung der Lea gegenüber nicht kippt: "Sonst machen wir kaputt, was wir mühsam in der Bevölkerung aufgebaut haben, wenn wir die Stadt noch weiter durch noch mehr Flüchtlinge belasten."

In den proppevollen Leas bleiben Konflikte nicht aus. In der Nacht auf Freitag mussten in Ellwangen (Ostalbkreis) Dutzende Polizeibeamte anrücken. Sie verhindern gerade noch eine drohende Massenschlägerei zwischen zwei rivalisierenden Flüchtlingsgruppen. Vom Dach einer Unterkunft aus warfen mehrere Menschen Steine, fünf Asylbewerber und ein Beamter wurden verletzt. "Etwas Vergleichbares gab es in dieser Form hier noch nicht", sagt ein Polizeisprecher. Auch der stellvertretende Leiter der Lea, Roland Herzog, spricht von einem außergewöhnlichen Vorfall. Konsequenzen sollen Anfang nächster Woche besprochen werden.

Auslöser war nach Erkenntnissen der Ermittler ein Streit unter zwei Männern aus Syrien und Algerien in der Schlange für die Essensausgabe am Donnerstagabend. Wegen des muslimischen Fastenmonats Ramadan habe diese spät stattgefunden, allerdings gab es auch eine weitere im Tagesverlauf. Bei dem Streit habe der Syrer eine leichte, oberflächliche Schnittwunde erlitten, sagte der Polizeisprecher. Beide Kontrahenten bekamen daraufhin nach Darstellung des Sprechers und von Herzog Hilfe von ihren jeweiligen Landsleuten. Schließlich verfolgten bis zu 100 Syrer die Algerier in deren Unterkunft. Die Folge: 30 Algerier kletterten auf das Dach des ehemaligen Kasernengebäudes und warfen mit dort liegenden Steinen in die Menge. Die Syrer skandierten zwar Parolen in ihrer Landessprache, verhielten sich aber weitgehend friedlich.

Um Gruppeneffekte zu vermeiden, müssen die Männer in verschiedene Unterkünfte

Dutzende Polizisten konnten schließlich schlichten, umstellten jedoch die ganze Nacht lang die Unterkunft der Algerier. Am Morgen hätten Busse die 30 Männer in vier Flüchtlingsunterkünfte in Karlsruhe, Mannheim, Heidelberg und Meßstetten gefahren, sagt Herzog. So sollen etwaige "Gruppeneffekte" möglichst vermieden werden. Sanktionen wie Taschengeldentzug gebe es für die Algerier nicht. "Aber eventuell bekommen sie Probleme im Asylverfahren." In Ellwangen sind laut Herzog derzeit 1200 bis 1300 Flüchtlinge untergebracht. Geplant war auch hier mit einer deutlich geringeren Kapazität von 500, in der Spitze 1000 Plätzen.

Integrationsministerin Bilkay Öney (SPD) erklärt: "Aggressionen und Konflikte im zwischenmenschlichen Bereich können überall und jederzeit auftreten, ohne dass es mit Ethnie oder Migrationshintergrund zu tun hat." Und auch sie verweist auf die derzeit sehr beengten Verhältnisse in den Aufnahmestellen.

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Weltflüchtlingstag

50 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht. Ohne ausreichende Nahrung und medizinische Versorgung ist ihre Lage oftmals lebensbedrohlich. Um auf die Not der Heimatlosen aufmerksam zu machen, hat die UN-Vollversammlung den 20. Juni zum internationalen Gedenktag erklärt. Im Bürgerkriegsland Syrien ist die Lage besonders kritisch: Nach Angaben der Vereinten Nationen waren Ende Mai 2015 knapp vier Millionen Syrer auf der Flucht, etwa ein Viertel von ihnen ist unter 25 Jahre alt.

Marine-Schiffe

Nach der Rettung von mehr als 3000 Flüchtlingen im Mittelmeer hat ein deutscher Marineverband seinen Hilfseinsatz beendet und ist nach Wilhelmshaven zurückgekehrt. Die Fregatte "Hessen" und der Einsatzgruppenversorger "Berlin" legten gestern im Heimatstützpunkt an. Die Besatzungen hatten in teils dramatischen Aktionen 2623 Männer, 601 Frauen und 195 Kinder aus überfüllten Holz- und Schlauchbooten geborgen und nach Italien gebracht. Als drittes Schiff aus dem Verband machte die Fregatte "Karlsruhe" in Wilhelmshaven fest. Die Fregatte "Schleswig Holstein" ist weiter im Einsatz.

Herkunft der Flüchtlinge

17.141 Flüchtlinge sind in den ersten fünf Monaten des Jahres nach Baden-Württemberg gekommen. Im Juni waren es bis einschließlich 17. schon 2679 – was nach Angaben des baden-württembergischen Integrationsministeriums auf einen vergleichsweise hohen Anstieg hindeutet. Die zehn Länder, aus denen die meisten Flüchtlinge kamen, für die Monate Januar bis Mai: Kosovo: 4522 (26,4 Prozent) Syrien: 1780 (10,4) Gambia: 1720 (10) Albanien: 1592 (9,3) Serbien: 1078 (6,3) Mazedonien: 977 (5,7) Nigeria: 594 (3,5) Irak: 581 (3,4) Afghanistan: 541 (3,2) Algerien: 503 (2,9 Prozent).

Einsatz gegen Schleuser

Der EU-Militäreinsatz gegen Schleuserkriminalität im Mittelmeer steht kurz vor dem Start. Das politische und sicherheitspolitische Komitee der Mitgliedstaaten einigte sich am Freitag auf einen rund 700 Seiten umfassenden Operationsplan und die Einsatzregeln, wie Diplomaten in Brüssel berichteten. Damit können die EU-Außenminister am Montag wie geplant den offiziellen Start für die Militäroperation bekannt geben. Mit dem Einsatz will die EU gezielt kriminelle Schleuserbanden bekämpfen, die Migranten von Libyen aus auf den lebensgefährlichen Weg in Richtung Europa schicken.