Akten sind nicht staubig, sondern spannend, findet Joachim Sturm. Foto: Schück

Menschen in der Psychiatrie in Geisingen starben nach 1945 Hungertod. Joachim Sturm erzählt.

Schwarzwald-Baar-Kreis - "Man findet immer wieder Kleinigkeiten, die spannend sind; zu jedem Thema unerwartet, unverhofft und plötzlich: zum Beispiel ein Foto oder eine Unterschrift", sagt Joachim Sturm.

Doch das Kreisarchiv, das er leitet, birgt auch ein Gruselkabinett oder einen Skandal, der in Vergessenheit geraten ist.Im ehemaligen "Kreispflegeheim" in Geisingen verhungerten noch nach 1945 Menschen aus dem ehemaligen Landkreis Donaueschingen in der Psychiatrie und Altenpflege, weil sie noch nach Kriegsende so behandelt wurden, wie die Psychiatrie der Nazidiktatur es vorgegeben hatte. "Die Menschen bekamen eine bestimmte Ernährung, um die Leute sterben zu lassen", erzählt Kreisarchivar Sturm. Die Akten über das "Kreispflegeheim" in Geisingen birgt das Kreisarchiv. Allerdings sind sie noch nicht aufgearbeitet worden.

"Da rufen mich Leute an, ob ich Akten zu einem bestimmten Namen habe", erzählt Joachim Sturm. Zu untersuchen wäre beispielsweise, ob Menschen, unter ihnen auch Obdachlose, aufgrund von Mangelernährung im Krieg oder durch gezielte Fehlernährung gestorben sind. "Ich habe Hinweise, dass man in Geisingen während der Nazizeit zwar die Leute zur Euthanasie abgegeben hat, aber nicht einverstanden war."

Erst die Hälfte der vorhandenen Unterlagen nutzbar gemacht

Die Antwort auf eine solche Anfrage zu einer der "Hungertoten in der Psychiatrie und Altenpflege, hier Kreispflegeheim Geisingen" gehört zu den 30 oder 40 Nachweisen, die Joachim Sturm in den Jahren 2009 bis 2011 erbracht hat. Das ist Teil eines Berichtes, den Sturm am nächsten Montag dem Kreisausschuss vorstellen wird. Eine weitere Anfrage galt übrigens der "Geschichte des israelitischen Kindersolebades in Bad Dürrheim". Immer mehr Menschen stellen Anfragen an das Kreisarchiv, neben Wissenschaftlern und Hobbyforschern besuchen auch Schüler das Archiv. Bei weiter steigenden Anfragen hält Sturm, der die Einrichtung alleine betreut, personelle Aufstockung durchaus für notwendig. Denn erst die Hälfte der vorhandenen Unterlagen ist nutzbar gemacht worden.

Die Akten reichen zurück bis ins Jahr 1780. Hausbauten und Auswanderungen dokumentierte das Bezirksamt Villingen handschriftlich. Nur wenige Dokumente sind noch vom Bezirksamt Donaueschingen geblieben, das während des Zweiten Weltkrieges bombardiert wurde und verbrannte. Vom ehemaligen Landratsamt Donaueschingen hat Sturm allerdings den Bestand übernommen, ebenso wie vom ehemaligen Landratsamt Villingen.

Joachim Sturm blättert in einem Dokument aus dem Jahr 1909. Es ist die Zeichnung eines Doppelwohnhauses in St. Georgen. "Eigentlich beginnt das Archiv nach 1918", erzählt Sturm. "Sie sehen sehr gut, dass im Kaiserreich nach 1900 eine sehr solide Entwicklung beginnt, die Industrialisierung. Sie sehen den Aufschwung und den Rückgang in den 20-er Jahren."

Aus dem Akten der 30-er Jahre des vergangenen Jahrhundertes könne man das Gemeinschaftsleben in den Dörfern und das Leben der einfachen Menschen rekonstruieren. "Schon damals gab es so etwas wie Hartz IV und eine staatliche Fürsorge, allerdings viel weniger Unterstützung als heute", erzählt Sturm. Schon zuvor begann eine Auswanderungswelle. "Viele einfache Menschen sind in die Schweiz ausgewandert", erzählt der Kreisarchivar. Das Bezirksamt verfasste ausführliche Portraits der Auswanderer, wie übrigens auch derjenigen, die staatliche Leistungen erhielten. Nach 1940 wurden in den Archiven die Akten über die Zwangsarbeiter geführt. "Ich habe über 10 000 Namen von Zwangsarbeitern, zwangsverpflichteten Franzosen und Italienern", sagt Sturm. Doch die Anfragen nach diesen Namen werden seltener, beobachtet er.

Die Besatzungszeit, die Eingliederung der Flüchtlinge nach 1945, die Entwicklung von Wirtschaft, Infrastruktur und Bildungswesen sowie die Lebens- und Arbeitsverhältnisse sozial benachteiligter Schichten sind Schwerpunkte bereits erschlossener Dokumente.

In neuerer Zeit sind Kreis-Almanach und Mitwirkung bei touristischen Projekten wie dem Jakobusweg weitere Schwerpunkte der Arbeit des Kreisarchivars.