Mahnwache: Verein Pro Stolpersteine gedenkt – stellvertretend für viele NS-Opfer – Anna Maria Schlenker
VS-Schwenningen. Eine Behinderung oder eine psychische Erkrankung reichte während der Nazidiktatur aus, um als "lebensunwert" bezeichnet und der staatlichen Ermordung zugeführt zu werden.
Opfern sogenannter Heilanstalten widmete sich am Sonntagabend eine Mahnwache des Vereins Pro Stolpersteine. Stellvertretend für unzählige Schicksale beleuchtete der Verein vor der Stadtkirche das Schicksal der Schwenningerin Anna Maria Schlenker. Dass die mörderische Zeit nicht endlos weit zurückliegt, machte die ergreifende Teilnahme ihres 96-jährigen Neffen Kurt Schlenker deutlich.
Anna Maria wurde am 12. Januar 1892 in der Neckarstadt geboren. Im Jahr ihrer Einschulung verstarb ihre Mutter. Sie besuchte die Volksschule bis zum Abschluss 1906. Bereits 1920 soll es bei Anna Maria zum schleichenden Beginn einer psychischen Erkrankung gekommen sein. Wegen "psychischer Auffälligkeit" wurde sie auf Anraten des Hausarztes 1921 in die Heilanstalt Rottenmünster gebracht, bald wieder entlassen und 1922 dort endgültig aufgenommen. Liebevoll wurde sie von der Familie versorgt.
So erinnert sich Schlenker noch an Besuche, zu deren Vorbereitung ein Gugelhupf für die Tante gebacken wurde. Unter dem Vorwand "planwirtschaftlicher Maßnahmen" wurde ein Teil der Patienten aus Rottenmünster in staatliche Heilanstalten verlegt – so auch Anna Maria Ende 1939 in die Anstalt Weissenau bei Ravensburg.
Bereits 1940 wird Anna Maria Schlenker erneut "im Zuge planwirtschaftlicher Maßnahmen" gemeinsam mit 74 weiteren Frauen in drei Bussen in die Tötungsanstalt Grafeneck gebracht, wo alle noch am selben Tag in der Gaskammer ermordet und anonym eingeäschert werden.
Die Angehörigen in Schwenningen, die 1940 von der Anstalt Rottenmünster vergeblich Auskunft über Anna Marias Aufenthaltsort zu erlangen suchten, bekamen nicht aus Grafeneck sondern durch "Aktentausch" – aus Hartheim, einem zu Tarnzwecken eingerichteten Sonderstandesamt bei Linz, erst Wochen später die Todesnachricht und die standesamtliche Sterbeurkunde zugeschickt; jeweils mit der fingierten Angabe einer natürlichen Todesursache und mit einem gefälschten Todesdatum.
Heute führt die Gedenkstätte Grafeneck Anna Maria Schlenker im Namens- und Gedenkbuch unter den mehr als 10 000 Menschen, die dort 1940 als sogenanntes "lebensunwertes Leben" ermordet wurden. Auf dem Städtischen Friedhof Schwenningen kam es 1940 zur Urnenbestattung auf ihren Namen zusammen mit 64 weiteren "Euthanasie-Opfern".
1947 schrieb der Schwenninger Stadtkämmerer i.R. Schairer an die Kriminalpolizei sowie an den Oberbürgermeister. Durch eine Notiz war er auf die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Tübingen zu den Vorkommnissen in Grafeneck gestoßen. Aus vermeintlichen KZs wie Grafeneck oder Hartheim bei Linz wurden Urnen überstellt, die zu Verstorbenen aus dieser Region gehörten. Das Friedhofsamt sah sich genötigt, die Urnen in bereitgestellten Gräbern beizusetzen – ohne genaue Kenntnis über die Todesursache. Die Unterlagen verschwanden nach dem Krieg spurlos. Nicht so das Urnenverzeichnis, aus dem Schairer eine Auflistung aller ihm suspekt erscheinenden Urnenbeisetzungen anfertigte. Später sollte sich herausstellen, dass weder der Ort noch das Todes- oder Einäscherungsdatum auf der Liste stimmen. Heute findet sich auf dem Waldfriedhof eine Mauer mit sieben Gedenktafeln sowie ein Gedenkstein mit folgender Inschrift: "Den unsterblichen Opfern aller Nationen im Kampf gegen nazistische Barbarei, verfolgt, gemartert, erschlagen – den Toten zur Ehre, den Lebenden zur Mahnung."