Bastian Ruf steht vor den Flaggen der 24 EU-Nationen im Europäischen Parlament in Brüssel. Foto: Ruf Foto: Schwarzwälder Bote

Reisetagebuch: "Basti bei den Belgiern" (9) / Interessante Tour beim Tag der offenen Tür der Europäischen Union

Bastian Ruf ist seit mehr als einem halben Jahr in Belgien, wo er seinen Freiwilligendienst absolviert. Von dort aus berichtet er auch exklusiv für den Schwarzwälder Boten über seine Erlebnisse.

VS-Schwenningen/Belgien. Wer ein Stück Berliner Mauer sehen möchte, fährt logischerweise nach Berlin – oder halt nach Brüssel. Denn auch dort sind tatsächlich zwei Stücke des Eisernen Vorhanges zu finden, der bis vor 30 Jahren große Teile Europas und vor allem Deutschland in zwei Lager teilte.

Heute stehen die Bruchstücke als Mahnmale und Erinnerung vor dem Parlament der Europäischen Union in Brüssel. Ich finde den Kontrast dabei sehr bedeutsam: Die Mauer stand für Trennung, Entfremdung und Isolation. Das Parlament hingegen ist für mich ein Ort der Zusammenarbeit, der Demokratie und des Austausches.

Wer nach Belgien fährt, kommt kaum darum herum. Man muss einfach die EU-Institutionen besichtigen. Und davon hat es in Brüssel fairerweise eine ganze Menge. Hier haben das EU-Parlament, der Europarat, die Europäische Kommission, der Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen ihren Sitz.

Im ganzen "Europaviertel" findet der Besucher dann außerdem natürlich die Vertretungen der einzelnen Regionen und Interessengruppen, so steht beispielsweise die bayrische Vertretung unübersehbar mit einem beeindruckend großen Gebäude direkt vor dem EU-Parlament. Schon ein bisschen dreist, oder?

Am bekanntesten ist sicherlich das Europäische Parlament. Doch wer sich ein wenig auskennt, wird sich jetzt fragen: "Moment, das EU-Parlament steht doch in Straßburg?" Und das stimmt natürlich! Tatsächlich gibt es zwei Parlamente der Europäischen Union. Und ja, das heißt, dass die Abgeordneten, deren Mitarbeiter und die EU-Beamten immer wieder hin und her pendeln müssen. Klingt unpraktisch, ist es auch. Aber natürlich weigert sich Frankreich, Straßburg so einfach aufzugeben.

Übersetzer sprechen im Schnitt fünf Sprachen

In Brüssel gibt es also EU-Politik zum Anfassen. Ich war in der Landeshauptstadt, als der letzte EU-Gipfel bezüglich des Brexits zusammentrat und sah die ganzen Autokonvois der Regierungschefs. Das war ziemlich cool. Allerdings sind deren Sitzungen natürlich nicht öffentlich, wohingegen man fast jederzeit ins Parlament schlendern und die Tagungen und Ausschüsse mitverfolgen kann. Das Tolle an der ganzen Sache? Es kostet keinen Cent.

Kürzlich war dann sogar noch Tag der offenen Tür der Europäischen Union. Klar, dass ich mit meiner Gruppe aus Freiwilligen da hin musste. Wann bekommt man denn schon mal die Chance, hinter die Kulissen der EU-Institutionen zu schauen? Allerdings hatten auch noch ein paar Andere die gleiche Idee und so fanden wir uns gemeinsam mit unzähligen Menschen in einer ewig langen Schlange vor dem Parlament wieder. Zuvor hatten wir uns ein wenig einschüchtern lassen, und wir wollten nicht so lange warten, also haben wir etwas halbherzig noch beim Ausschuss der Regionen vorbeigeschaut. Schließlich wollten wir dann aber doch ins Parlament, denn es ist und bleibt nun mal die wichtigste europäische Institution.

Also standen wir im Regen Schlange. Doch als wird dann endlich drin waren, war uns klar: die Warterei hat sich ausgezahlt. Wir ließen uns ein wenig treiben, nahmen an einem Quiz teil, scheiterten kläglich, aber lernten immerhin etwas und liefen dann kurz entschlossen einer vorbeikommenden Führung hinterher. Und dann standen wir plötzlich im Plenarsaal. Und ich meine wirklich im Plenarsaal, nicht nur auf der Besuchertribüne! Dort zu sitzen, wo sonst nur die gewählten Mitglieder des Parlamentes sitzen, war schon ziemlich beeindruckend.

Ich fand es besonders toll, dass wir danach die Leute treffen konnten, die dafür sorgen, dass sich die Abgeordneten überhaupt unterhalten können: die Übersetzer. Der durchschnittliche Dolmetscher der EU arbeitet mit fünf Sprachen. Das ist wirklich beeindruckend. Es gilt aber, dass alles bei der EU in alle offiziellen Amtssprachen übersetzt werden muss. Das macht auf 28 Mitgliedsstaaten 24 Sprachen. Zusammen sind das also 552 Übersetzungsmöglichkeiten! Dann gibt es auch noch den Unterschied zwischen dem Übersetzen von Dokumenten und dem Simultanübersetzen des gesprochenen Wortes während der Sitzungen. Letzteres ist verdammt schwierig. Ich kann das mit meinem Französisch noch nicht, aber es interessiert mich auf jeden Fall.

Unser Guide wies uns auf die von Irland nominierte Amtssprache hin, das Gälische, und meinte, dass die EU für diese exotische Sprache noch händeringend Übersetzer sucht.

Das erscheint irgendwie ein unnötiger Aufwand zu sein. Warum macht die EU es nicht einfach wie die Vereinten Nationen und entscheidet sich für sechs offizielle Sprachen? Das könnte daran liegen, dass es einen Unterschied zwischen den Vereinten Nationen und der EU gibt: Bei den Vereinten Nationen sitzen topausgebildete Diplomaten, von denen man erwarten kann, dass sie eine zweite Sprache sprechen. Bei der EU hingegen sitzen direkt vom Volk gewählte Vertreter, die unter Umständen nur ihre Muttersprache beherrschen. Mir gefällt das sehr, dass die EU somit niemanden ausschließt.

So weit weg ist dieses Europa gar nicht

Während meines Freiwilligendienstes habe ich auch noch etwas anderes verstanden. Ich habe bemerkt, dass viel zu häufig von "denen in Brüssel" geredet wird. Als ob das für den Otto-Normalbürger etwas weit Entferntes und Unerreichbares wäre. Das entspricht aber ganz und gar nicht den Tatsachen. Denn nicht zuletzt sind es wir, das Volk, das die Besetzung des Europäischen Parlaments in der Hand hat. Wir können direkt unsere Kandidaten wählen und es kann sich jeder zur Wahl stellen lassen.

Vom 23. bis 26. Mai sind wieder Europawahlen. Wer mit der EU unzufrieden ist, hat jetzt die Chance, etwas zu verändern. In Belgien gibt es sogar eine Wahlpflicht. Das erzwingen politischer Partizipation ist vielleicht nicht die sanfteste Methode, aber eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn das Volk mitmacht. Ich persönlich übernehme lieber diese Verantwortung für meine Zukunft, als "denen in Brüssel" die Schuld für die Gegenwart zu geben.

Aber Europa ist nicht nur die EU, nicht nur das Parlament, nicht nur etwas für Diplomaten und Politiker. Gemeinschaft und Zusammenarbeit darf nicht nur als grobe Richtlinie auf irgendeinem hochoffiziellen Stück Papier stehen, sondern muss vor allem jeden Tag auf der untersten Ebene umgesetzt und gelebt werden.

Ein belgischer Kumpel schickte mir ein Bild von uns vor dem Parlament mit EU-Flaggen in der Hand mit den Worten "Wir sind Europa". Und damit hat er absolut Recht. "Die in Brüssel" machen vielleicht den Weg frei, aber es liegt an uns, diese Chance zu nutzen, die Verantwortung zu übernehmen und den Traum von einem geeinten Europa zu leben, jeden Tag.