Die Parade zum Kriegsende 1945 in Villingen. Repros: Bräun Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: Weiße Flagge wird am südlichen Münsterturm gehisst / Und doch noch: die letzten Opfer jener Tage

Mai 1945. Kriegsende in Villingen. Schon am 20. April war den Villinger Zivilisten klar gewesen: "Der Krieg muss bald vorbei sein!"

VS-Villingen. An diesem Nachmittag nämlich war die Kaserne an der Kirnacherstraße bereits geräumt worden, und deutsche Soldaten verschiedener Einheiten hatten sich bereits abgesetzt in Richtung Bad Dürrheim, als gegen Abend französische Panzer durch das Obere und das Bickentor über das Kopfsteinpflaster rollten. Und auch die NS-Kreisleitung war bereits auf und davon. Die alten Männer und die jungen Burschen des Villinger Volkssturms versagten sich einen sinnlosen Widerstand.

Noch in derselben Nacht trauen sich einige Plünderer zu holen, was die Vorräte hergeben. Als am nächsten Morgen, Samstag, der 21. April, das Munitionslager gesprengt wurde, kam es im Rathaus durch den späteren Villinger Verwaltungsdirektor und 1. Beigeordneten Hermann Riedel zu einem markanten Entschluss. Riedel, der die Amtsgeschäfte führte, nachdem Bürgermeister Berckmüller an die Front musste, ließ die weiße Fahne auf dem Münster hissen. Gegen die NS-Order, bei Wehrkraftzersetzung mit dem Tode bestraft zu werden. Die Aktion mit weißen Leintüchern erledigten der Polizei-Revierleutnant Adler und Polizeimeister Meyer mit Vikar Völker, der dazu auf den Südturm des Münsters kletterte. Capitaine Besnier akzeptierte dieses Zeichen, dass Widerstand aufgegeben sei, und bestellte den Fotokaufmann Walter Bräunlich zum kommissarischen Bürgermeister. Eine Überraschung in der Bürgerschaft.

Besniers direkter Nachfolger Colonel Rosette verhängte eine sofortige Ausgangssperre, während 1500 Kriegsgefangene das Stammlager "Stalag" an der Lessingstraße verlassen konnten. Trotz Ausgangssperre oder gerade deswegen wurden die Ladenlokale von Villinger Kaufleuten von den französischen Soldaten geplündert. Noch einmal war die Stadt in Gefahr, als das 18. SS-Korps von Vöhrenbach aus ins Brigachtal durchbrechen will, worauf die Franzosen Villingen räumen und unter Beschuss nehmen wollten. So gab es bei Artilleriebeschuss allerdings doch noch die letzten Opfer jener Tage.

Örtliche NS-Funktionäre wurden in der letzten Aprilwoche verhaftet und im Gefängnis und in der Knabenschule festgesetzt. Die Besatzer befahlen gleichzeitig zahlreiche Gebote und Verbote, während bei Schneetreiben die Kohlenkeller bei der Zivilbevölkerung leer waren. Zweiter Mai – erstmals werden Lebensmittelmarken ausgegeben, während die Besatzer die Order haben, sich in Disziplin zu üben und die Bürgerschaft wenig zu klagen hat: Villingen beweist sich loyal.

Am 8. Mai verkünden die Glocken den Waffenstillstand

Am 8. Mai verkünden die Glocken den Waffenstillstand, den der deutsche Generaloberst Jodl in Reims unterzeichnet hatte. In Villingen beseitigen bereits Arbeitskolonnen in den Straßen und in den Anlagen die Spuren des Krieges, in dessen letzten vier Monaten 205 Tote zu beklagen sind. Darunter auch der Schuhhändler Häßler, der in der Niederen Straße seine Familie vor den Franzosen schützen wollte und der die Haustüre nicht oder zu spät öffnen wollte. Es wurde geschossen und Häßler tödlich getroffen.

Ab dem 9. Mai ist die bislang obligate Verdunkelung aufgehoben und die Stadt steht erstmals wieder im Licht der Haushalte: "Fast wie Weihnachten" wird dies empfunden. Am 10. Mai kann die Prozession zu Christi Himmelfahrt stattfinden, worauf drei Tage später neben der Trikolore auch Villinger Fahnen wehen, als die Franzosen den Festtag der Jeanne d’Arc feiern.

Auf die Parade durch die Bicken- und die Rietstraß0e folgen eine Feierstunde auf dem Friedhof und eine Mese im Münster mit Stadtpfarrer Max Weinmann und einem französischen Priester. Jene Villinger, die glaubten, ihr Hausrat sei in den Kriegstagen gut im Raum St. Georgen versteckt, müssen erfahren, dass ihre wertvolle Habe verloren war.

Eine Insel – ohne Radio und ohne Zeitung

Derweil gilt Villingen als "Insel": ohne Radio und ohne Zeitung. Einem "Revolutions-Komitee", das der zivilen Verwaltung zur Seite stehen soll, gehören die Bürger Schleicher, Restle, Zehnder, Kuppel und Haas an, die auch über die "Reinigungsaktion" in den bisherigen Amtsstuben wachen. Auf den Pfingstsamstag installierte und hörte man kleinere Glocken, die man auf dem Speicher der Gießerei Grüninger entdeckte, und das Münster erstrahlte abends in "gleißendem Scheinwerferlicht". Ab der Woche darauf mussten ehemalige Parteimitglieder drei Streifen auf breiten Armbinden tragen, was wohl bürgerliche Zweifel an diesem und jenem auslöste.

Mit dem Kartoffelkäfer droht eine neue Gefahr

Derweil musste die Schuljugend bei der Jagd nach dem Kartoffelkäfer helfen, der die künftige Ernte bedrohte. Als die Gräuel in den Konzentrationslagern werden erstmals öffentlich benannt werden und mit Scham und Abscheu zur Kenntnis genommen wurden, hörte man wohl allzu oft, man habe doch nur wenig bis nichts davon gewusst… Am 31. Mai feiern die Katholiken das Fronleichnamsfest – die Prozession sei die größte gewesen seit Menschengedenken. Doch noch sind die Narben des Krieges längst nicht geglättet, auch wenn NS-Beamte aus dem Dienst entlassen sind und einige Straßen wieder ihre früheren Namen erhalten. Ein Überlandbus des Reiseunternehmens Bernhard Maier steht noch demoliert beim "Hölzlekönig" und auf den Schießständen liegt noch jede Menge Munition – im Mai 1945.

Montag, der 23. April 1945 - die letzte Ausgabe "Der Führer" – Hauptorgan der NSDAP -Gau Baden" war bereits seit Freitag bei der Druckerei Müller in der Gerberstraße zu dessen Verteilung gedruckt, doch glaubte wohl kein vernünftiger Bürger mehr an die allerletzten Schlagzeilen, schon gar nicht vom Endsieg. Denn schon am Samstag hatten französische Soldaten die Stadt besetzt und der Befehlshaber hatte eine Ausgangssperre verhängt. So blieb "Der Führer" stapelweise liegen und fand Tage später im unteren Krawazi bei Luise Demmler, geborene Lottholz, aus Ulm, eine besondere Verwendung. In ihrem Laden für Lebensmittel und Kolonialwaren hatte die Frau des Reichsbahn-Inspektors Paul Demmler auch Heringe oder eben Bücklinge im Angebot. Und so erinnert sich Luises Enkel Ulrich Demmler, dass man halt dann den Fisch in "Der Führer" vom April verpackte, und tatsächlich gab es bis heute (siehe untenstehendes Foto) zwei, drei Exemplare zur Erinnerung an die ungewöhnliche Familienstory.