Kompanieführer Josef Hagmann dachte immer an seine Soldaten und ließ ihnen über seine Eltern Weihnachtspäckchen zukommen. Foto: Huber Foto: Schwarzwälder Bote

Historisches: Gerlinde Hagmann findet Feldpost und Tagebuch des Vaters / "Liebes-Gaben" über Weihnachten an die Front

Das Päckchen verlässt Villingen. Ein knapp 20 Jahre alter Mann öffnet es Tage später. Ist gerührt über die Geschenke von einer ihm fremden Familie. Artur hat an diesem Heiligen Abend, 1914 an der französischen Front nur einen Wunsch: "Nächstes Jahr möchte ich zum Fest wieder zuhause sein."

VS-Villingen. Es ist eine erschütternde wie berührende Geschichte, die Gerlinde Hagmann in den kommenden zwei Stunden dem Schwarzwälder Boten erzählt. Sie handelt von Kriegserlebnissen, Todesängsten und dem Verlust von Kameraden, die ihr Vater ertragen musste. Spiegelt die Ohnmacht des damals 21 Jahre alten Villingers wider, der nie über das spricht, was er rund 380 Kilometer weiter im Westen akribisch und detailliert in einer Art Kriegs-Tagebuch aufschrieb.

"Es sind Schilderungen, die unter die Haut gehen", fasst die heute fast 80-jährige Tochter ihre eigenen Gefühle zusammen, wenn sie die Eintragungen ihres Vaters liest. Ein Vater, der das Vertrauen seiner Soldaten genießt und im wohl schwärzesten Kapitel seines Lebens auch an jene jungen Männer denkt, die nicht mit Päckchen aus der Schwarzwälder Heimat rechnen konnten, nicht nur, weil sie aus einfachen Verhältnissen stammten. "Da gab es Familien, bei denen waren noch sechs weitere Brüder an der Front", erklärt die Tochter.

Ein Danke trotz Todesangst

Gerlinde Hagmann nimmt vorsichtig eine Karte in die Hand: Postkartengroß, zwei Tannenzweige aus Bleistift, fein skizziert, in Sütterlin geschrieben und 104 Jahre alt: "Fröhliche Weihnachten" wünscht ein Artur, zwischen Granateneinschlägen und dem Donner von Kanonen. Der kleine Gruß in die ferne Heimat geht an eine Adresse in Villingen, an die Großeltern, an die Familie von Franz Hagmann.

"Schön, dass da jemand an uns denkt, da weit draußen im Feld. Leider kann ich Ihnen nicht anders danken", schreibt er. Wie sein Kamerad Egon hofft auch der junge Artur, dass "wir in den wunderschönen Schwarzwald zurückkehren können".

250 Briefe, ein Tagebuch

An die 80 Pakete, die meisten in der Weihnachtszeit, verlassen Villingen und erreichen die Front. Es war Gerlinde Hagmanns Vater Josef, der den Großeltern die Namen seiner Kameraden angibt, mit der Bitte, ihnen doch Päckchen zu schicken, "da einige von ihnen niemanden haben oder arm sind". So erhalten die jungen Männer, weitab der Heimat, Dosen mit Wurst, Sardinen, Schokolade, Pfeiftabak und Weihnachtsplätzchen.

Die aparte wie eloquente ältere Dame aus der Südstadt zieht eine weitere vergilbte Karte hervor, die an ihre Großmutter Marie gerichtet ist: "Ich habe noch nie ein Päckchen bekommen. Meine Freude ist übergroß. Vielen Tausend Dank."

Der Beistelltisch in der Wohnung der bald 80-Jährigen ist übervoll. Auf dem Esstisch stapeln sich Karten über Briefe, in Kartons vor ihr und auf dem Boden weitere Botschaften, teils in den Schützengräben in Nordfrankreich geschrieben. "Es rührt zu Tränen, wie sich die jungen Soldaten gefreut haben", so Hagmann. "Manche nennen die Päckchen sogar Liebes-Gaben. Und so geht das weiter bis zum Kriegsende." Das "Vermächtnis meines Vaters", sinniert sie, findet sie beim Aufräumen auf dem Dachboden des Elternhauses. Rund 250 Briefe und Karten von Soldaten und das Tagebuch ihres Vaters Josef.

Seltene Tränen berühren

Gerlinde Hagmann schildert ihre Großeltern als "sehr sozial eingestellt", denn "Bedürftige wurden immer unterstützt." Und ihr Vater? "Harte Schale, weicher Kern", lächelt sie. "Einmal habe ich meinen Vater weinen gesehen, an Allerheiligen auf dem Friedhof", erzählt sie: Bei dem Lied der Kapelle an den Kriegsgräbern: "Ich hatte einen Kameraden." Sie wird leiser: "Viele seiner Soldaten sind gefallen, darunter auch ein Freund."

Zurück blieben damals Erinnerungen und ein Foto, das die beiden drei Wochen zuvor noch in der Heimat zeigt: Ein Bild mit zwei lächelnden Männern. "Es war ein Kopfschuss", ergänzt sie. Ihr Vater selbst überlebt Oberschenkeldurchschuss, Flugzeugabsturz, wird für seine Tapferkeit geehrt.

Unsägliches Leid

Eingebrannt in den Kopf des Vaters, der 1971 starb, sind die Grausamkeiten des Ersten Weltkrieges: Um den Offizier herum, zerrissene Körper, abgetrennte Gliedmaßen, die Auszehrung, die Erschöpfung, das Leid um ihn herum, kaum 18 Jahre alte Soldaten, die in Todesangst nach ihrer Mutter schreien. Kompanieführer Josef Hagmann, der nach dem Krieg das unterbrochene Studium der Agrarwissenschaften fortsetzt und als Diplom-Agraringenieur abschließt, beginnt bald, an der Front, am Sinn dieses zu Irrsinns zweifeln. Gedanken, die die Tochter Gerlinde Hagmann 104 Jahre später so ausdrückt: "Es war die kollektive Selbstzerstörung und ein Irrweg der Mächtigen."