Isabella Kucharski hat den Kindern die Abenteuer von Pippi Langstrumpf mitgebracht. Fotos: Stiegler Foto: Schwarzwälder Bote

Bildung: Zahlreiche Kinder besuchen Vorlesetag in der Stadtbibliothek / Sprachgefühl wird gefördert

Die Augen schließen, lauschen und dank der eigenen Vorstellungskraft Bilder im Kopf entstehen lassen: Vorlesen, das zeigt sich beim bundesweit stattfindenden Vorlesetag in der Schwenninger Stadtbibliothek, fasziniert Kinder auch noch heute.

VS-Schwenningen . "Es ist etwas in sich gekehrtes. Man kann die Augen schließen und abtauchen", schwärmt Anna Stahl. Gemeinsam mit ihrer Kollegin Susi Schneider von der Stadtbibliothek Schwenningen organisiert sie zum wiederholten Male den jährlich stattfindenden bundesweiten Vorlesetag. Eine kleine Kinderschar hat sich am Freitagnachmittag versammelt, um spannenden Geschichten zu lauschen – von einem gewitzten Wolf, einem mutigen, jungen Mädchen und dem schrecklichen Henry.

"Nach wie vor fasziniert das Vorlesen Kinder in jedem Alter, weil Bilder nunmal besser im Kopf entstehen." Dabei sei es ganz egal, ob Erwachsene mit großer Mimik und Gestik vorlesen oder ganz ruhig und reduziert. "Egal wie, es ist immer ein wertvolles Gut." Und von unschätzbarem Wert wenn es darum geht, ein Gefühl für Sprache zu entwickeln und sie dann auch anzuwenden.

Die Kinder sitzen im Kreis auf ihren Kissen in der plüschigen Leseecke. Susi Schneider ist die erste von drei Vorlesepaten und hat den Kleinen "Die Steinsuppe" von Anais Vaugelade mitgebracht. "Habt ihr schon mal Steinsuppe gegessen?", fragt Schneider in die Runde und erntet sofort abschätzige Blicke. Die Kinder strecken die Zunge raus: Lecker klingt das nicht. "Wir lesen heute den ganzen Nachmittag", erklärt Schneider. Diese Auskunft erschreckt den siebenjährigen Amir und er schaut zu seinem Bruder Jamal rüber: "Aber wir müssen heute noch in den Baumarkt."

Imed Arfaoui lacht. Er ist der Vater der zwei Jungen. Er vermutet, dass die Sache mit dem Baumarkt knapp werden könnte. Eigentlich wollte er nur kurz einige Märchen und Gute-Nacht-Geschichten für seine Söhne ausleihen. Er wusste nicht, dass der Vorlesetag stattfindet. Jetzt sitzt er in einem viel zu kleinen, roten Kinderstuhl und wartet, bis die Geschichte mit der Steinsuppe erzählt ist.

"Wir sind oft hier", erzählt Arfaoui. Seinen Kindern liest er fast täglich vor. "Es ist ein Abendritual." Ihm ist das lieber, als dass seine Söhne nur vor dem Fernseher sitzen. Sein Ältester wurde in der Grundschule sogar für seine Lesefähigkeiten ausgezeichnet, berichtet der stolze Vater und lacht. "Das hat er nicht von mir. Es wundert mich: Beide Eltern haben Migrationshintergrund, seine Mutter kommt aus Rumänien und ich aus Tunesien. Wir haben beide keine deutsche Schule besucht. Und er ist Vorlesekönig." Das Vorlesen hat auch für ihn selbst einen sehr praktischen Nutzen: "Ich lerne quasi mit dem Kind die Sprache."

Als nächste Vorlesepatin ist Isabella Kucharski an der Reihe. Seit mehreren Jahren fesselt sie ihre jungen Zuhörer beim Vorlesenachmittag, der jeden Dienstag in der Stadtbibliothek stattfindet, mit aufregenden Geschichten. Spannend ist hierbei, dass Kucharski abwechselnd deutsch und polnisch liest. Auch wenn die Kinder die fremde Sprache meist nicht verstünden, so entwickle sich doch immer schnell eine Faszination für deren Melodie und Ausdruckskraft. Es sei wichtig, auf diese Weise ein Gefühl für Sprache zu entwickeln. "Wenn wir uns nicht verstehen, können wir auch nicht miteinander kommunizieren", glaubt Kucharski. Durch die Zweisprachigkeit entstünde innerhalb der Kindergruppe ein Gemeinschaftsgefühl. "Die Kinder verstehen dann: Wir sind gleich, egal ob wir türkisch, polnisch oder deutsch sprechen."

Kucharski zeigt den Kindern das Buch, das sie mitgebracht hat. In dieser Runde haben sich nur Mädchen in der Lesecke eingefunden und auf den großen Kissen bequem gemacht. Das passt ganz gut, denn Kucharski stellt ihnen die Abenteuer der mutigen und selbstbewussten Pippi Langstrumpf vor. Kucharski beginnt vorzulesen, stellt zwischendurch Fragen oder wiederholt auch mal eine Passage. Ihr Vater segelt über die Weltmeere, ihre Mutter schaut vom Himmel herab zu und Pippi wohnt ganz alleine in der Villa Kunterbunt. "Das ist ein bisschen traurig", überlegt die kleine Gabriella und legt den Kopf schief. Auch die Begeisterung Pippis, irgendwann Südseeprinzessin zu werden, kann die junge Zuhörerin nicht ganz teilen.

Die Faszination für Geschichten, Erzählungen zu lauschen und Bilder nur vor dem eigenen inneren Auge entstehen zu lassen, sei generationenübergreifend, ist sich Imed Arfaoui sicher. Er erinnert sich an seine eigene Kindheit in Tunesien. "Meine Oma hat mir immer Geschichten erzählt, oft bis tief in die Nacht. Dabei war sie Analphabetin." Doch diese Geschichten habe er auch heute noch – viele Jahrzehnte später – im Kopf. Eltern und Großeltern geben sie an die Kinder weiter und die wieder an ihre Kinder und immer so weiter. Auch er erzählt seinen Söhnen Omas Geschichten von damals. Arfaoui fasziniert auch, dass er heute in den Geschichten der Gebrüder Grimm Parallelen zu jenen alten Erzählungen aus Tunesien entdeckt. Scheinbar, so Arfaoui, seien es immer die gleichen Geschichten, die Menschen sich, egal wo auf der Welt sie leben, erzählen.