Der Münchner Rathausturm mit dem berühmten Glockenspiel – es ist ein Stück aus Villingen, aus den Händen Wilhelm Schleichers, das tagtäglich unzählige Touristen aus aller Welt in seinen Bann zieht.Foto: Bräun Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: Münchens großes Touristenattraktion am Rathaus ist ein Villinger Werk

Schäfflertanz und Ritterturnier – die Szene begeistert tagtäglich Touristen aus aller Welt in der bayerischen Landeshauptstadt. Es war ein Villinger, der 1908 das Münchner Wunderwerk geschaffen hat.

VS-Villingen. Das Glockenspiel im Münchner Rathausturm stammt von Orchestrionbauer Wilhelm Schleicher – hier und in München eher vergessen.

Gäbe es nicht leidenschaftliche Autoren und passionierte Geschichts- und Geschichtenforscher, die sich auch mit der Historie der Arbeiterbewegung ab 1871 und mit Anfängen von Handwerk und Industrie ab 1900 beschäftigt hätten, wäre der Villinger Wilhelm Schleicher wohl längst vergessen worden, nicht aber sein Werk für München.

Denn wer als Besucher in München weilt, dem bleibt auch der Marienplatz beim Rathaus nicht fremd, wenn täglich dreimal zur vollen Stunde, um 11, um 12 und um 17 Uhr, Hunderte auf den Klang des Glockenspiels warten und vielfach Kameras und Smartphones die Szenen am Turm einfangen.

Dass nun grad einer aus dem badischen Villingen für die Funktion des "Spieltisches" und des Glockenspiels samt dessen Figuren seine Fertigkeiten als gelernter Orchestrionbauer eingesetzt hat, ist wohl nur noch ganz wenigen bekannt. Ist es doch auch schon 112 Jahre her, dass das technische Wunderwerk jener Zeit eingebaut wurde.

Das Ganze kam so: Als nach 1850 erste Ansätze einer frühen Industrie neue Impulse setzten, worauf sich das bisherige Handwerk der Uhrmacher im Schwarzwald nach und nach einstellte, wurde vor allem "das breite Uhrmacherhandwerk" zur Grundlage "neuer Fabriken".

Waren es im damaligen Handwerk noch immer die Gesellen, die eine Lehre absolviert hatten, konnte man in den Fabriken bei ersten Ansätzen einer Arbeitsteilung gleich nach der Pflichtschule als Hilfskraft anfangen.

Einer, der als Tüftler und "Pröbler" nebenbei auch auf eigene Rechnung an der häuslichen Drehbank arbeitete, war der gebürtige Villinger Wilhelm Schleicher (1875-1961). Der Sohn des Malers Karl August Schleicher erlernte im nahen Unterkirnach den Beruf des Musikwerk-Mechanikers und des Orchestrionbauers.

Nach seiner Lehrzeit bis um 1893 bei der Orchestrion-Fabrik Dold und nach weiterer Berufserfahrung beim Orchestrionbauer Hirt in Villingen zog es Schleicher zunächst in die Schweiz, von wo er nach wenigen Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückkehrte und er bei Josef Stern arbeitete. Der nun galt mit seinen Orchestrions aus dem badischen Villingen als Künstler, was 1906 wohl auch der Münchener Glockengießer Mannhardt erfahren hatte.

Konnte Mannhardt auch die 43 Glocken für den geplanten Schäfflertanz und das Ritterturnier gießen (Schleicher erinnerte sich mit 80 Jahren in 1951 an 48 Glocken), fehlte ihm dazu jedoch ein Meisterbetrieb im Musikwerkbau und eben für den erforderlichen Spieltisch.

Auf Anfrage bei Josef Stern wollte dieser einen solch herausragenden Auftrag nicht annehmen, doch Wilhelm Schleicher erklärte statt seiner: "Wir machen das!"

Und so sorgte bereits 1907 das Ergebnis für Furore, als das riesige Spielwerk in Münchens Festhalle vorgeführt wurde, und zeitgleich der Prinzregent von Bayern den Grundstein für das Deutsche Museum legte.

Es dauerte jedoch noch bis zum 8. Oktober 1908 bis das Werk für die 43 Glocken auf dem Rathausturm "zur Zufriedenheit und mit Bewunderung aller" als Meisterwerk funktionierte: Wilhelm Schleicher hatte sich als herausragender Tüftler und Feinmechaniker und als wahrer Meister bewiesen. Bis ins hohe Alter blieb Schleicher zwar bodenständig, aber als Erfinder stets rastlos. Obwohl ihm meist das Eigenkapital fehlte und ihm seine Erfindungen von Geldgebern "abgeluchst" wurden. Auch vom Orchestrionbauer Schönstein am Heimatort.

Zu Schleichers 80. resümierte das Lokalblatt 1955: "Wilhelm behielt stets seinen Humor, und war begeisterter Turner seit seiner Jugend, obwohl von den Kanzeln gegen die Leibesübungen gewettert wurde. Er war auch 30 Jahre Mitglied der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr und ›Mitgründer‹ der wieder neu gegründeten alt-historischen Narrozunft, für die er talentiert Festzüge arrangierte."

Schleicher war ein Villinger des Handwerks, des Könnens und des Ehrenamtes, dessen Weg später sogar zur Radiotechnik bei der Saba, der Schwarzwälder-Apparate-Bau-Anstalt führte.

Ein populäres Schauspiel mit Glockenschlag um 11 und 12 Uhr und von März bis Oktober auch um 17 Uhr begeistert tagtäglich aufs Neue Touristen und Passanten auf dem Münchner Marienplatz. Das Glockenspiel im Rathausturm stellt zwei "Events" aus Münchens Stadtgeschichte dar: die Hochzeit von Herzog Wilhelm V. mit Renate von Lothringen im Februar 1568 und das begleitende Ritterturnier auf dem Marienplatz mit dem Sieg des bayerischen Ritters über seinen Gegner aus Lothringen. Darunter zeigt der Schäfflertanz, wie sich nach einer schweren Pest-Epidemie die Fassmacher als Erste wieder auf die Straßen gewagt und getanzt haben, um der verängstigte Bevölkerung deren Angst zu nehmen und sie zu erheitern.