Villingen-Schwenningen - Die Vorwürfe zielen ins Gesicht: Wurden in der Tat "unnötige Operationen vorgenommen", wie es Patienten behaupten? Ein Netz von Anschuldigungen zieht sich über einen Facharzt aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis. Gehört der Beschuldigte zu jenen Ärzten, denen ein Kunstfehler nachgewiesen werden kann?

Der für Juristen außergewöhnliche Fall hat weite Kreise gezogen. Mittlerweile beschäftigt die Geschichte, die unsere Zeitung im Frühjahr zum ersten Mal thematisierte, neben der Staatsanwaltschaft Konstanz und dem Polizeipräsidium Tuttlingen auch die Beschwerdestellen von MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) in Baden-Württemberg und der Kassenärztlichen Vereinigung, Bezirk Südbaden. Der Fall ist noch nicht abgeschlossen. Doch eines kann Andreas Mathy, Sprecher der Staatsanwaltschaft, schon jetzt sagen: "So etwas ist bei uns nicht an der Tagesordnung." Ärztliche Kunstfehler, erwähnt er, werden im Allgemeinen nicht gesondert erfasst, sondern laufen unter dem Delikt Körperverletzung.

Der Fall

Seitenweise spiegeln nach Informationen unserer Zeitung Dokumente die Vorwürfe gegen einen niedergelassenen Fachmediziner aus dem Schwarzwald-Baar-Kreis wider. Ehemalige Patienten berichteten davon, dass man ihnen das Trommelfell durchstochen habe, "um im Anschluss an den Eingriff operieren zu können". Andere werfen dem Arzt vor, an der Nasenscheidewand Knorpel entnommen zu haben, um Atemprobleme zu beheben, und damit die Nase ruiniert zu haben. Die Folge: Eine Rekonstruktion der Nase sei nötig geworden. Immer wieder meldeten sich Betroffene, mittlerweile ist ein Netzwerk von einstigen Patienten des niedergelassenen Arztes entstanden, das Erfahrungen austauscht.

Kurz nach Bekanntwerden des Falles gingen bei der Staatsanwaltschaft Konstanz fünf Anzeigen ein. Seit April beschäftigt sich ein vom Landgericht Konstanz beauftragter Gutachter mit den Vorwürfen des möglichen "Ärztepfuschs". Die von Patienten gegen den Fachmediziner vorgebrachten Vorwürfe wurden in den sozialen Medien stark diskutiert und schlugen auf Internetportalen hohe Wellen. "Seit der Veröffentlichung ist einiges im Fluss", beschreibt Andreas Mathy die Entwicklungen in der brisanten Sache. Weitere Ex-Patienten zeigten den Mediziner an. Mittlerweile sollen 13 zusätzliche Anzeigen gefolgt sein. Und drei Anzeigen werden nach Angaben einer Patientin noch nachgereicht. Diese sollen dann im Ganzen bearbeitet werden. Wann die Expertise zu den ersten Fällen vorliegt, kann Mathy noch nicht sagen.

Der Beschwerdeweg

Was tun, wenn man als Patient nicht mit den Leistungen eines Arztes zufrieden ist und "Pfusch" vermutet? Diverse Möglichkeiten stehen Betroffenen offen. Sie können sich an ihre Krankenversicherung sowie an die Ärztekammern wenden oder aber auch gleich zur Polizei gehen. "Wir sorgen für einen transparenten Umgang mit Behandlungsfehlern", lautet der Anspruch der Ständigen Konferenz der Gutachterkommissionen und Schlichtungsstellen der Bundesärztekammer. Was Ärztekammern an statistischem Material veröffentlichen, deckt sich in etwa mit den Zahlen des MDK.

In rund einem Viertel der Beschwerdefälle wurden Behandlungsfehler oder ein Mangel an Risikoaufklärung ermittelt, der bei einem Zivilverfahren einen Anspruch des Geschädigten auf Entschädigung begründete. Für Baden-Württemberg sind vier Gutachterkommissionen zuständig. In etwa einem Viertel aller Beschwerden wurden Ärzten auch hier "Kunstfehler" nachgewiesen.

Der erste Zweifel

Die sich immer weiter spinnende Geschichte um "unnötige, teils sehr schmerzhafte Operationen" begann mit dem Misstrauen einer älteren Frau, die Zweifel an den Eingriffen des Facharztes hatte, der nun im Sucher der Staatsanwälte steht. Ihr hatte der Arzt erzählt, sie habe sich beim Putzen der Ohren das Trommelfell durchstoßen. Diverse Operationen folgten.

Und mit deren Zahl stieg auch die Skepsis der einstigen Patientin. Die Frau begann auf eigene Faust ihre Recherche, zog zudem auch Zweitmeinungen ein und baute ein Netzwerk von Patienten auf, die dem Facharzt ebenfalls "Pfusch" vorwerfen. Je öfter der Name des Mannes genannt wurde, desto mehr Vorwürfe wurden gegen ihn laut, auch hinter vorgehaltener Hand.

Vorsatz oder Fahrlässigkeit?

Nicht jeder Vorwurf eines "Kunstfehlers" mündet in eine Strafanzeige, die ein aufwendiges Gutachten nach sich zieht. Kommt es doch so weit, erläutert Mathy, sei zu prüfen, ob der Arzt sich eines Behandlungsfehlers schuldig gemacht habe oder nicht. Damit stehe dann eine Anklage wegen fahrlässiger oder vorsätzlicher und eventuell gefährlicher Körperverletzung im Raum. Um fahrlässige Körperverletzung handelt es sich, wenn aus Unachtsamkeit bei einer eigentlich sachgerecht vorgenommenen Operation ein Fehler unterlaufe, der Chirurg beispielsweise aus mangelnder Sorgfalt einen Teil seines OP-Bestecks im Bauch des Patienten lasse. Der Vorsatz setzt voraus, dass ein Mediziner einen Behandlungsfehler billigend in Kauf nimmt. So beispielsweise, wenn ein Chirurg den Bauchraum eines Patienten aufschneiden müsse, um auf der linken Seite eine Operation vorzunehmen, "der Arzt sein Skalpell dann aber rechts ansetzt". Bei allen Eingriffen, so Mathy weiter, sei das Einverständnis des Operierten die Voraussetzung.

Die Verbände

Wie reagieren die offiziellen Stellen der Ärzteschaft auf derart massive Klagen gegen einen Kollegen? Oliver Erens, Pressesprecher der Landesärztekammer, kann zum aktuellen Fall nichts sagen. Generell seien der Ärztekammer die Hände gebunden, sobald die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufgenommen habe. "Dann sind alle berufsrechtlichen Maßnahmen auf Eis gelegt. Dann müssen wir den Juristen das Feld überlassen." Gab es nicht vor Längerem Hinweise von Ärzten aus der Region, die bei der Bezirksärztekammer darauf hingewiesen haben wollen, "dass in einer Praxis nicht alles korrekt abläuft?" Darauf gab es weder eine Bestätigung noch ein Dementi. "Unser Kammervorstand tagt nicht öffentlich."

Arndt Breuning, Sprecher des Regionalverbands der betreffenden Fachärzte Schwarzwald-Baar-Heuberg, kommentiert die Welle der Beschwerden mit den Worten: Wenn Patienten den Mut dazu haben, sich öffentlich zu äußern, löse dies anschließend häufig eine Lawine von weiteren Vorwürfen aus. Dennoch schätzen Experten die Dunkelziffer bei vermuteten Kunstfehlern als hoch ein.

Info: Kunstfehler

Zahlen steigen

Die Zahl der Beschwerden wegen des Verdachts auf Behandlungsfehler ist 2014 gestiegen und damit auch die Zahl der Gutachten. Patienten, die Zweifel an der Behandlung ihres Arztes haben oder sich geschädigt fühlen, können sich unter anderem beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) fachliche Hilfe holen. Im Jahr 2014 übernahm der MDK Baden-Württemberg in 4103 Fällen eine gutachterliche Prüfung (2013: 3361), in 1769 Fällen (2013: 1419) erstellten Gutachter eine ärztliche Expertise. In etwa einem Viertel der Fälle konnte der Vorwurf eines Behandlungsfehlers bestätigt werden.

Viele Befriedungen

Bundesweit gab es laut Ärztekammer 7751 Entscheidungen zu mutmaßlichen Behandlungsfehlern. In 2252 Fällen lag ein Behandlungsfehler vor. Viele Fälle, so Oliver Erens, Sprecher der Landesärztekammer Baden-Württemberg, werden aber schließlich unter Mitwirkung der Kammer bei einem Gespräch zwischen Arzt und Patient befriedet. "Häufig kommt es zu einer außergerichtlichen Einigung." Wie in den Vorjahren betrafen rund zwei Drittel der Behandlungsfehlervorwürfe Kliniken des Landes, rund ein Drittel bezog sich auf Vorwürfe gegen niedergelassene Ärzte. Etwa jeder vierte Vorwurf war berechtigt und wurde durch ein Gutachten bestätigt. Mehrheitlich handelte es sich um Komplikationen.