In Hiroki Ito verlässt der erste Hochkaräter den VfB Stuttgart. Der Abwehrspieler wechselt zum FC Bayern – und die bange Frage lautet: Wer folgt dem Beispiel des Japaners?
Nach 85 Spielen in der Fußball-Bundesliga für einen Verein gibt es viele Momente, auf die man zurückblicken kann. Ganz besonders, wenn diesen Club derart viele Emotionen umgeben wie den VfB Stuttgart. Sollte Hiroki Ito auf die Momente seiner Zeit bei den Weiß-Roten zurückblicken, geht das sicher nicht ohne diese Sekunden, die eigentlich alle mit seinem Landsmann in Verbindung bringen. Aber: Ohne Ito hätte es im Mai 2022 auch keinen Legendo-Moment gegeben.
Eckball Omar Marmoush, Kopfballverlängerung Ito, dann köpfte Wataru Endo den Ball in der Nachspielzeit des letzten Spieltags ins Kölner Tor – der VfB war gerettet.
Hiroki Ito also hat seinen Platz in der VfB-Geschichte sicher. Doch nun nicht mehr nur wegen dieser Aktion am vorderen Posten. Sondern auch wegen einer schier unfassbaren Wertsteigerung, die er innerhalb der drei Jahre in Stuttgart hinbekommen hat. Im Sommer 2021 war er zunächst auf Leihbasis vom japanischen Zweiligisten Jubilo Iwata gekommen, ein Jahr später wurde er fest verpflichtet. Kostenpunkt bis dahin: rund eine halbe Million Euro. Nun geht der 25-Jährige als Nationalspieler und etablierter Bundesliga-Profi – für bis zu 30 Millionen Euro (wenn alle Boni erreicht werden).
Rasante Entwicklung bei Hiroki Ito
Eine große Überraschung ist das nicht, Ito galt schon länger als einer, der abseits des VfB Karriere machen könnte. „In Hiroki verlässt ein sportliches Schwergewicht unseren Kader. Er hat bei uns eine herausragende Entwicklung genommen und geht jetzt seinen nächsten Schritt“, sagt denn auch recht sachlich der Sportchef Fabian Wohlgemuth. Was dann doch überraschte Mitte dieser Woche: dass ausgerechnet der FC Bayern die neue sportliche Heimat des Verteidigers wird.
Aber: Die Münchner planen nach einer titellosen Saison einen Umbruch – vor allem in der Abwehr. Um Jonathan Tah von Bayer Leverkusen wird noch gebuhlt. Mit der Verpflichtung von Hiroki Ito („Der Abschied fällt mir nicht leicht“) ist nun das Signal gesetzt, dass sich in der Münchner Defensive Grundlegendes verändern soll. „Wir wollen hungrige Spieler, die neue Energie reinbringen“, sagt der Münchner Sportvorstand Max Eberl, „und Hiroki hat alles, was wir uns wünschen.“ Der Japaner, der einen Vertrag bis 2028 unterschrieben hat, hat zwar noch in keinem europäischen Wettbewerb gespielt, aber immerhin in der Nationalmannschaft (19 Länderspiele) internationale Erfahrung gesammelt. Beim VfB hat er sich nicht nur in Rekordzeit von einem Talent für die zweite Mannschaft zu einer Bundesliga-Stammkraft entwickelt. Sondern auch sein herausragendes Stärkenprofil bewiesen.
Clevere Zweikampfführung (nur acht Gelbe Karten in 85 Bundesliga-Spielen), Schnelligkeit, Flexibilität (links in der Innenverteidigung oder auf der linken Außenbahn), gute Spieleröffnung, starkes Stellungsspiel – und eine unerschütterliche Ruhe. Die könnte den Fans des VfB Stuttgart nun abhandenkommen. Nicht nur, weil Transfers zwischen Stuttgart und München selten emotionslos hingenommen werden.
Die Frage lautet vielmehr: Ist der Ito-Abgang der Anfang vom Ende dieser in den vergangenen Monaten so erfolgreichen Mannschaft? Nicht wenige fürchten den großen Ausverkauf.
Ein Mega-Umbruch ist zwar eher unwahrscheinlich, genauso gesichert ist aber, dass weitere Spieler den VfB verlassen werden. „Wir haben eine Mannschaft, die innerhalb eines Jahres die Trendumkehr vom Abstiegskandidaten zum Champions-League-Teilnehmer vollzogen hat“, sagt Fabian Wohlgemuth. Der baldige Sportvorstand ergänzt: „Die Marktwerte unserer Spieler haben sich in diesem Zeitraum verdoppelt. Das ist eine nahezu einmalige Situation in Europa. Diese Extrementwicklungen haben Konsequenzen.“ Die schmerzhaft sein könnten, aber zumindest einigermaßen lukrativ.
Der Abgang von Serhou Guirassy ist sehr wahrscheinlich
„Unsere Qualität“, sagt Wohlgemuth, der Itos Entscheidung gegen den VfB bedauert, „ist jetzt überall gefragt.“ Zum Beispiel in Dortmund. Rund um den BVB heißt es, die Schwarz-Gelben würden lieber heute als morgen einen Topstürmer verpflichten – und nicht erst dann, wenn sich noch mehr Konkurrenten auf dem Transfermarkt tummeln. Serhou Guirassy, der 28-Tore-Mann des VfB, steht dabei besonders im Blickfeld. Zumal der Angreifer wie Ito eine Ausstiegsklausel im Vertrag stehen hat – die sogar günstiger ist als jene des Japaners.
Am Mittwochabend zeigte sich der 28-Jährige noch Fan-nah bei der Kinopremiere der VfB-Saisondokumentation in Leonberg. Als er aber gefragt wurde, ob er sich einen Wechsel zur Borussia vorstellen könne, antwortete Guirassy: „Auf jeden Fall. Es ist ein sehr großer Club.“ Noch sei aber nichts fortgeschritten. Klar dürfte jedoch sein, dass sich der VfB auf einen Abgang Guirassys einstellen muss. Auch bei Chris Führich (zum FC Bayern?) geht die Tendenz wohl zum Wechsel. Waldemar Anton hat zwar jüngst sein Bekenntnis zum VfB erneuert, ist aber ebenfalls begehrt. Immerhin: Durch die Ito-Millionen muss der Club wohl nicht mehr zwingend Spieler verkaufen, um auf die erwünschte Transferbilanz zu kommen.
„Wir kennen unseren Platz im Wettbewerb und werden auch zukünftig mit Veränderungen umgehen müssen“, sagt Wohlgemuth anlässlich des Ito-Wechsels dennoch und betont: „Auch deshalb trifft uns diese Entwicklung natürlich nicht unvorbereitet.“ Drei Leihspieler wurden schon fest verpflichtet – Anthony Rouault, Leonidas Stergiou und Jamie Leweling. Fünf Neue hat der Sportdirektor bereits für die kommende Saison geholt. In Jeff Chabot (neben Nick Woltemade, Justin Diehl, Yannik Keitel und Stefan Drljaca) auch einen Linksfuß für die Abwehr. Als Ito-Ersatz. Und für künftige besondere Momente beim VfB Stuttgart.