Kinder schauen Spielzeug im Schaufenster an Quelle: Unbekannt

Die Bundesregierung muss die Regelsätze für alle gut 6,5 Millionen Hartz-IV-Bezieher neu berechnen und damit noch höhere Sozialausgaben einplanen. Die bisherige Regelung verstößt gegen das Grundgesetz

Karlsruhe - Die Bundesregierung muss die Regelsätze für alle gut 6,5 Millionen Hartz-IV-Bezieher neu berechnen und damit noch höhere Sozialausgaben einplanen. Die bisherige Regelung verstoße gegen das Grundgesetz, entschied das Bundesverfassungsgericht am Dienstag in Karlsruhe.

Besonders für Kinder in Hartz-IV-Familien könnte es nun mehr Geld geben. Deutschlands höchste Richter ließen aber offen, ob Bezieher des Arbeitslosengeldes II generell höhere Leistungen bekommen müssen.

Die noch von der rot-grünen Bundesregierung eingeführte Berechnungsbasis sei nicht nachvollziehbar. Die Kalkulation sei nicht transparent und orientiere sich nicht genug an der Realität. Das Gericht forderte den Gesetzgeber auf, bis zum 31. Dezember eine Neuregelung zu schaffen.

Damit muss bei einer der größten Sozialreformen in der deutschen Nachkriegsgeschichte erheblich nachgebessert werden. Erfolgreich geklagt hatten drei Familien aus Bayern, Hessen und Nordrhein- Westfalen.

Die schwarz-gelbe Bundesregierung kündigte eine schnelle Umsetzung an. Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) wollte aber nicht kommentieren, ob es zu Mehrausgaben kommen wird. Sozialverbände sprachen von einer "schallenden Ohrfeige" für die Regierung, da nun das gesamte Hartz-IV-System reformiert werden müsse.

Für die SPD ist damit auch die Mindestlohn-Debatte neu eröffnet. Es könne nicht sein, dass jemand ohne Arbeit mehr Geld bekommt als jemand, der den ganzen Tag einer Arbeit nachgeht, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Thomas Oppermann.

Bis zur Änderung bleibt die bisherige Regelung gültig. Ab sofort können Hartz-IV-Empfänger jedoch einen besonderen Bedarf geltend machen, der durch die bisherigen Zahlungen nicht gedeckt wird. Voraussetzung: Es handelt sich um einen Bedarf, der laufend besteht und nicht durch Einsparungen oder Unterstützung Dritter gestemmt werden kann. Das könnte zum Beispiel beim Zusatzbeitrag zur Krankenversicherung der Fall sein.

Alle in durch diese Zahlungen für den besonderen Bedarf drohen dem ohnehin schwer gebeutelten Staat in diesem Jahr höhere Ausgaben für Hartz IV. Bereits jetzt liegt die Neuverschuldung auf der Rekordhöhe von fast 100 Milliarden Euro.

In Deutschland beziehen mehr als 6,5 Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen, darunter 1,7 Millionen Kinder. Besonders sie sollten bessergestellt worden, forderten die Richter. Bei der bisherigen Berechnung werde der Realität wenig Rechnung getragen. "Kinder sind keine kleinen Erwachsenen", monierten die Karlsruher Richter.

Nach dem Urteil durfte der Gesetzgeber zur Sicherung eines "menschenwürdigen Existenzminimums" zwar feste Regelsätze schaffen. Aber deren Berechnung ist nach Ansicht der Karlsruher Richter nicht korrekt gewesen. So sei nicht nachvollziehbar, dass die Ausgaben für Bildung und das gesellschaftliche Leben ausgeklammert worden seien - etwa für Internetnutzung, Kino und Theater oder die Mitgliedschaft im Sportverein.

Die Berechnung müsse nun in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf neu erfolgen. Geschätzte Abschläge "ins Blaue hinein" seien nicht angemessen. Da die Grundlage bei den Regelsätzen für Erwachsene nicht stimmt, schleppt sich der Fehler bis zur Berechnung der Kinder-Sätze durch.

Bei der neuen Berechnung kann der Gesetzgeber laut Urteil an dem Statistikmodell festhalten, das er bislang gewählt hat. Grundlage für die neuen Berechnung könnten dann die Ergebnisse der Einkommens- und Verbraucherstichprobe 2008 sein, die das Statistische Bundesamt im Herbst 2010 vollständig vorlegt.

Bei Kindern müssten sich die Regelsätze an deren speziellen Bedürfnissen orientieren, betonte das Gericht. Alltagserfahrungen deuteten auf einen besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarf hin. Das gelte vor allem für schulpflichtige Kinder. Könnten sie notwendige Materialien wie Bücher, Hefte oder einen Taschenrechner nicht zahlen, drohe den hilfebedürftigen Kindern der "Ausschluss von Lebenschancen". Es bestehe die Gefahr, dass sie später nicht in der Lage seien, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Die sei mit dem Prinzip des Sozialstaates nicht vereinbar.

Der Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene liegt bisher bei 359 Euro monatlich, bei Inkrafttreten des Gesetzes Anfang 2005 waren es noch 345 Euro. Bei Kindern und Jugendlichen sind die Leistungen gestaffelt, und zwar ausgehend vom Regelsatz: Unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent (215 Euro), unter 14 Jahren 70 Prozent (251 Euro), darüber 80 Prozent (287 Euro).

Die Diakonie lobte die Entscheidung aus Karlsruhe. "Die vom Grundgesetz garantierte Existenzsicherung ist nicht verwirklicht", sagte Diakonie-Präsident Klaus-Dieter Kottnik. Jetzt müsse der Gesetzgeber schnellstmöglich handeln und die Regelsätze kindgerecht und existenzsichernd ausgestalten.

Allein höhere Kinderregelsätze lösen nach Einschätzung des Kinderschutzbundes bestehende Systemmängel der Familienförderung nicht. "Dieses System ist insgesamt sozial ungerecht, bürokratisch und intransparent", sagte der Vorsitzende Heinz Hilgers.

(dpa)