Glücklich in Bayern: "Ich habe viele Freunde aus dieser Gegend kennengelernt", sagt der ehemalige US-Soldat André Shepherd. Foto: Guyton

André Shepherd war US-Soldat, doch er wollte nicht ein zweites Mal in den Irak. So ist er desertiert und tauchte unter – im Chiemgau, mitten auf dem bayerischen Land.  Nun will er etwas erreichen, das es in Deutschland bisher noch nicht gibt: Asyl für einen Fahnenflüchtigen der US Army. 

André Shepherd war US-Soldat, doch er wollte nicht ein zweites Mal in den Irak. So ist er desertiert und tauchte unter – im Chiemgau, mitten auf dem bayerischen Land.  Nun will er etwas erreichen, das es in Deutschland bisher noch nicht gibt: Asyl für einen Fahnenflüchtigen der US Army.

Grassau - Der junge Mann lebt in Cleveland/Ohio im Auto. Er ist Mitte 20, hat sein Informatik-Studium fast fertig. Ein Semester fehlt noch bis zum Abschluss, aber er hat kein Geld mehr. Die Eltern sind nicht reich, sie müssen auch noch die drei Geschwister unterstützen. Er hangelt sich von einem Billigjob zum nächsten. Doch arbeiten, studieren und zudem im Auto leben, schlafen, lernen – das geht nicht gut. Und so unterschrieb André Shepherd am 27. Januar 2004 im Alter von 27 Jahren einen Vertrag beim Rekrutierungsbüro der US-Armee. „Der größte Fehler meines Lebens“, wie er heute sagt.

Shepherd öffnet heute das Tor eines alten Bauernhauses in Grassau im Chiemgau, es sind nur ein paar Kilometer zum See. Auf dem Schild am Eingang steht „Königreich Bayern“. Shepherd, der große schwarze US-Amerikaner, lacht und sagt: „Willkommen in meiner Heimat.“

Seine Zwei-Zimmer-Wohnung ist eher spärlich eingerichtet, aber er trägt einen großen Sack voll Lebensgeschichte mit sich. Es ist die Geschichte des ersten US-Deserteurs überhaupt, der versucht, in Deutschland Asyl zu erhalten. Seit mehr als fünf Jahren läuft der Fall, ein Ende ist nicht absehbar. Denn die Angelegenheit ist kompliziert und ziemlich heikel, weil sie das Verhältnis zu den USA betrifft. Warum hat sich André Shepherd ausgerechnet das Chiemgau ausgesucht mit seiner konservativen bayerischen Bevölkerung? „Ich habe viele Freunde aus dieser Gegend kennengelernt“, sagt er. „Sie haben immer zu mir gehalten.“

„Armee der armen Schlucker“

Der neu rekrutierte Mann wird noch in den USA zum Techniker für die Apache-Kampfhubschrauber ausgebildet. „Mir waren beim Eintritt in die Army zwei Sachen wichtig“, erinnert er sich, „die Krankenversicherung und die Ausbildung.“ Er glaubt dem Rekrutierungsoffizier in Cleveland, dass es unter den US-Soldaten im Irak kaum Verluste gebe, dass die Bevölkerung sie dort wie Helden empfange. „Ich war damals kein politischer Mensch.“

Doch die Armee erweist sich nicht als Truppe von patriotischen Kämpfern. „Es war eine Armee der armen Schlucker.“ Nach einem Zwischenstopp in Deutschland, in der Kaserne Katterbach bei Nürnberg, geht es für sechs Monate in den Irak. Über den Einsatz redet Shepherd im Stakkato, ohne Pause, atemlos. Als er am Einsatzort in der Nähe von Tikrit auf normale Iraker trifft, sehen diese ihn ängstlich und auch wütend an. „Die Leute hatten nichts zu essen, sie wurden terrorisiert.“

Das Techniker-Team arbeitet ständig an den Apache-Hubschraubern, um sie einsatzfähig zu halten. „Die Piloten durften nichts über ihre Flüge sagen.“ Informationen kursieren über Geheimmissionen, tote Soldaten und tote irakische Zivilisten. „Die Zweifel wurden immer größer“, erinnert sich André Shepherd, „ich hatte ständig Magenschmerzen.“ Dann kommt  heraus, dass der eigentliche Kriegsgrund nie existiert hatte – die irakischen Massenvernichtungswaffen. Alle fragen ihre Vorgesetzten: „Wann gehen wir wieder nach Hause?“

Deutsche Behörden in der Bredouille

Die Eltern in Cleveland sind stolz auf ihn. Heute arbeitet er in Deutschland als Informatiker für einen kleinen Internetdienstleister. Er hat einen normalen Vertrag und bekommt ein normales Gehalt, er muss viel reisen. „Mir fehlt vor allem die Zeit“, sagt er. Denn neben diesem fast normalen Leben hat er auch sein Asylverfahren mit vielen Tausend Seiten an Dokumenten, mit Anträgen, Widersprüchen, Erklärungen.

Das Bundesamt für Migration hatte 2011 seinen Asylantrag abgelehnt. Shepherd führte darin aus, dass er sich nicht weiter an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg beteiligen könne. Er berief sich auf eine EU-Richtlinie. Die Behörde entgegnete, dass er als Apache-Techniker nie unmittelbar an die Front geraten sei und dass die Vereinten Nationen mit ihrer Resolution 1546 den US-Einsatz von Juni 2004 an als Aufbau der Nachkriegsordnung gebilligt haben – also bevor Shepherd in das Land entsandt worden war. Anfang 2013 wollte man beim Verwaltungsgericht München keine Entscheidung treffen. Nun liegt der Fall in Luxemburg beim Europäischen Gerichtshof. Shepherd und sein auf Asylrecht spezialisierter Anwalt Reinhard Marx aus Frankfurt rechnen damit, dass der Deserteur Ende dieses Jahres angehört wird.

„Es war für mich wie eine Therapie“

In Katterbach, zurück vom Krieg, besteht die Hoffnung, dass die Apaches nicht mehr so schnell eingesetzt werden müssen. André Shepherd geht viel raus aus der Kaserne, lernt Deutsche kennen, die zu Freunden werden. Dieter zum Beispiel, der aus dem Chiemgau kommt und seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Doch der zweite Einsatzbefehl für den Irak lässt nicht lange auf sich warten. Er redet viel mit den deutschen Freunden, mit den anderen US-Soldaten geht das kaum. „Es war für mich wie eine Therapie“, sagt er. Für den 11. April sind sie verabredet, es ist das Jahr 2007. „Ich wusste: Wenn ich gehe, dann gebe ich die USA auf, Cleveland, meine Heimat.“

Angst vorm schwarzen Mann?

Shepherd packt in der Kaserne ein paar Klamotten ein, nimmt seinen Armeeausweis mit und eine Dartscheibe. Beim Erzählen lacht er wieder: „Meinen US-Pass habe ich vergessen.“ Er geht durch das Haupttor nach draußen, steigt ins Auto der Freunde. Dann ist er weg.  „Mittagszeit, sollen wir essen gehen?“, wird er gefragt. „Gern“, sagt Shepherd und fragt: „McDonald’s oder Burger King?“ Er entscheidet sich für McDonald’s. Hier kann er ganz zwanglos reden, er fällt als Schwarzer nicht auf. Und vielleicht fühlt er sich hier ein bisschen wie in Cleveland.

19 Monate lang ist er weg, er lebt als Deserteur, als Illegaler im Chiemgau. Zum Beispiel beim Dieter und seiner Familie. „Dort hätte man mich nie finden können“, sagt Shepherd. Es muss so ungefähr im letzten Haus des letzten kleinen Dorfes gewesen sein. „Ich habe geputzt, im Haushalt und im Garten geholfen.“ Einige Monate war er auch beim „Bäcker“, wie alle den Michael nennen, weil er Bäcker ist.

„Das war für mich selbstverständlich, dass wir ihn aufnehmen“, erinnert sich der Bäcker. Er erzählt, wie seine kleinen Kinder Shepherd immer wieder lange aus ihren Bilderbüchern vorgelesen haben. „Da hat er Deutsch gelernt.“ Kam Shepherd denn den Nachbarn, den Menschen im Dorf nie komisch vor? Ist da niemand einmal zum Rathaus oder zur Polizei gegangen wegen des unbekannten schwarzen Mannes? Da sagt der Bäcker einen denkwürdigen Satz: „Hier auf dem Dorf hält man zusammen.“ Wenn bei ihm einer wohne, dann sei das in Ordnung, und zwar für alle. Viele kannten die Geschichte des schwarzen Mannes.

„Eine nette Frau, Kinder, einfach ein normales Leben“

  Shepherd weiß nicht, ob die Armee nach ihm sucht, ob sie seine Desertion der deutschen Polizei gemeldet hat. Bei Polizeikontrollen zückt er seinen Armeeausweis und bleibt unbehelligt. Deserteure werden von US-Kriegsgerichten hart bestraft, meist mit einigen Jahren Gefängnis. Zehntausende US-Soldaten desertierten während des Irak-Krieges, meist gingen sie nach Kanada, wo sie geduldet werden. Einer ist im Chiemgau.

Als es Shepherd in der Illegalität nicht mehr aushält, geht er zum Landratsamt nach Rosenheim. Er erzählt seine Geschichte und fragt, was er machen kann. Die Mitarbeiter reagieren ungläubig. Sie sind nicht zuständig, sie holen aber auch nicht die Polizei. Ein Mann von der Behörde sagt: „Endlich hat das mal einer von denen gemacht.“

Am 26. November 2008 stellt er Antrag auf politisches Asyl. „Bernau, Prien, Seebruck“ – Shepherd zählt die Orte am Chiemsee auf, die er mag, wo er Freunde hat. Sein Deutsch ist ziemlich gut, doch auf Englisch kann er sich präziser ausdrücken. Er möchte bald einmal Schloss Neuschwanstein besuchen. Da kauft er sich dann Postkarten und verschickt sie mit dem Satz: „Das ist mein neues Haus in Deutschland.“ Shepherd lacht wieder. Es ist, als wolle er auch eine Trauer weglachen. Was wünscht er sich für die Zukunft? „Eine nette Frau, Kinder, einfach ein normales Leben.“