Ferien bei den Großeltern sind das Schönste. Unsere Autorin erinnert sich an die Sommer in den 90ern bei Maria und Josef, ihren donauschwäbischen Großeltern.
Die Tage bei den Großeltern saßen im Sommer wie die Spatzen auf den Dächern. Einer neben dem anderen, und sie sahen einander alle ähnlich. Heute gehen wir Rosenkranz beten, hieß es, und wir mussten den Gartendreck aus den Fingernägeln kratzen. An der Hand der Großmutter liefen wir über die Brücke und den Fluss, durch die Bahnunterführung. In der Kirchbank roch es nach Weihrauch und Kölnisch Wasser, und ich starrte auf die Hände meiner Großmutter Maria, die mit ihren blauen Adern die Perlen des Rosenkranzes hielten. Manchmal sagte sie: „Solche Hände wirst du auch mal haben.“ Denn das hatte früher die Gretel-Großmutter schon zu ihr gesagt. Gegrüßet seist du, Maria.
Das Haus der Großeltern stand auf ebenem Gelände an einer Kreuzung. Die Grundstücke der Siedlung sahen alle gleich aus, hatten große Höfe mit Wäscheleinen und Gärten voller Gemüse- und Blumenbeete. In ihren Kellern standen Einmachgläser und Kartoffelkisten unter gewölbten Decken. Vom Küchenfenster aus, an dessen Fensterbrett ich oft saß, blickte man auf die Straßenkreuzung, über die fast nie ein Auto fuhr, und in der Ferne die Wohnblocks, deren tristes Beige daran erinnerte, dass man dort glücklicherweise nicht mehr wohnte.
Anfang der fünfziger Jahre, erzählten die Großeltern, waren alle darin eingepfercht gewesen, in zwei Zimmern, sie selbst, die Urgroßeltern, Tanten, die kleine Mutter. Zwei Zimmer, deren Wände angenehm dick waren verglichen mit den Holzverschlägen im Zug, in dem alle kurz zuvor angekommen waren. Einem Viehtransport.
Am Abend wetzte der Großvater die Messer, wenn er am Küchentisch saß
In ihrer Kittelschürze stand die Großmutter morgens an der abwaschbaren Tischdecke am Esstisch, und auf unseren Tellern hatte sie Tafelbrötchen mit Butter und Marmelade beschmiert, Apfelschnitze im Kreis gelegt, auf jedem eine Bananenscheibe. Mein Großvater Josef schnitt die Äpfel, die er Ebbl nannte, in der offenen Hand. Hielt die Äpfel wie kleine Vögelchen und teilte sie mit einem der scharfen Messer in der Mitte. Die halbierte Frucht sah aus wie das Herz der Kirchenmaria, die ich während des Gottesdienstes anstarrte.
Am Abend wetzte der Großvater die Messer, wenn er am Küchentisch saß, um sie zu schärfen. Und dieses Geräusch formte sich mit den anderen des Sommertages zu einer Kette der Alltagsklänge, einem Zustand des Aus-der-Welt-Seins, in dem ich mich seltsam aufgehoben fühlte.
Andere Kinder gab es ringsum kaum, und wir wollten auch keine treffen. Es sollte jeden Sommer wie immer sein, das war der Zauber der Omaferien. Wir lebten den Tag der Großeltern mit, der in eine feste Form gegossen war. Kochen, essen, putzen, Besorgungen und Gartenarbeiten. Zwischendurch mussten wir sterbende Verwandte besuchen, die Mutter des Großvaters etwa. Bei ihr standen wir am Bett, und ich starrte auf das spitze Kinn der Frau. Unter einer dicken Decke verschwand der kleine Körper. Wieder draußen war die Luft wärmer, flirrender, und ich fühlte mich lebendiger als je zuvor.
Einmal ging die Küchentür auf, und die Mutter trat ein
Abends kochte die Großmutter Kartoffeln, es gab dazu rohen Speck und Zwiebeln. Wir durften es mit den Händen essen, und das war eine Wonne. Ein Stück Kartoffel, eine kleine Ecke Speck, ein Rädchen Zwiebel in die hohle Hand, und dann warfen wir alles in unsere Münder. Wir lachten.
Einmal ging während des Abendessens die Küchentür auf, und meine Mutter trat ein, in ihrem Stadtkostüm, mit Handtasche und Mascara, die Lippen schmal. Sonst fand ich sie schön, jetzt sah sie aus wie ein überspannter Geigenbogen. Als sie merkte, wie wir mit den Händen aßen, wurde sie wütend auf die Großeltern. Mit ihnen sprach sie einen eigentümlichen Dialekt, den Dialekt der Donauschwaben, der wie eine Mischung aus Schwäbisch und Bayerisch klang. Wir machten ihn oft nach, sagten „schworz“, wenn wir schwarz meinten, lachten und zwangen die Großmutter zur uns bekannten Aussprache, die dann klagte, sie habe eben nichts Richtiges und auch nicht richtig sprechen gelernt. Der Großvater sagte: „Was da drin ist, kann euch keiner nehmen.“ Er zeigte auf seinen Kopf. Genommen hatte man ihm einen Dreiseithof, Pferde, Hühner und Weinreben. Sein Zuhause. Meine Großeltern waren nur sechs Jahre zur Schule gegangen in der Baranya, einem Grenzgebiet zwischen dem heutigen Ungarn und Kroatien. Im neuen Land, meinem Land, hatten sie vor meiner Geburt in Fabriken gearbeitet.
Die Großeltern sagten „der Auto“ und „der Radio“, vielleicht weil sie sich nicht vorstellen konnten, dass diese hochtechnischen Dinge etwas anderes als männlich waren. Nur der Großvater konnte den Auto steuern. Wenn er vom Einkauf zurückkehrte, wurde er von der Großmutter gelobt. Wie gut er für uns sorgt! Geschimpft wurde er, wenn er nicht mehr so scharf essen konnte wie früher. Und als meine Schwester nicht mit in die Kirche wollte und er, während wir weg waren, mit ihr „Mensch ärgere dich nicht“ spielen sollte. Denn als wir zurückkehrten, saß die Schwester in der Küche und weinte und der Großvater hockte im Wohnzimmer mit finsterer Miene vor dem Fernsehgerät. Keiner von beiden hatte verlieren können.
Im Gegensatz zur Großmutter, die ununterbrochen redete, sprach der Großvater fast nichts. Man sollte ihn auf manches auch nicht ansprechen. Nicht auf seine erste Frau, die im Lager gestorben war. Er hatte im Wohnzimmer eine Süßigkeitenschublade, die für uns tabu war und nur ihm gehörte.
Matz war kein Wort, und daher gab es Matz in Wahrheit auch nicht
Im Dialekt der Großeltern gab es Wörter für Dinge, die es in unserer Sprache nicht gab, aber wir sollten sie nicht benutzen. Wenn wir es taten, sagte die Mutter: „Du weißt, dass das kein echtes Wort ist.“ Der Schmutz, der morgens innen am Auge ist, er hieß bei den Großeltern Matz. Aber Matz war kein Wort, und daher gab es Matz in Wahrheit auch nicht. Ich schämte mich für Matz, wischte ihn heimlich weg und erwähnte ihn bis zum Ende der Pubertät nie wieder.
Manchmal spielte die Großmutter mit uns am Küchentisch Schule oder Hochzeit. Sie war kindisch. Das erhob sie zur einfallsreichen Spielpartnerin und zu einer fantastischen Erzählerin – immer so lange, bis sie die nächste Mahlzeit vorbereiten musste. Sie kochte Hühner-Paprikasch, Zwetschgenknödel, Rindfleisch mit Kren und Weichselsoße, presste aus einem, wie ich fand, gruseligen silbernen Gerät Paprikawürste, es gab Bohnensuppe und Hefeknödel, ein süßes Gebäck namens Salami, Zserbo, Nussstrudel und Hefezopf mit Äpfeln und Rosinen. Abends saßen wir auf der Terrasse und schnitten dünne Scheiben von einer Wassermelone, die wir Schinken nannten.
Wenn wir uns beklagten, wie heiß es draußen im Garten war, erzählte die Großmutter von den Sommern auf den Feldern der Baranya, als die Sonne brannte und sie Kartoffeln ernten musste, eine lange Bahn bis zum Ende des Feldes – und dann wieder zurück, alles gebückt oder auf den Knien, das Kopftuch weit ins Gesicht gezogen. Sie träumte stundenlang im staubtrockenen Feld von Wasser, von sprudelnden Quellen und Platzregen, als sie sich Zentimeter für Zentimeter voranarbeitete.
Im Flur neben der Tür bei den Großeltern stand auf einem Regalbrett das Telefon, ein altes mit Wählscheibe, mit dem man immer die gleichen Nummern anwählte. Die der Schwester der Großmutter, genannt Evi-Tante, oder der Nachbarin, die der Nichten und Schulfreunde, deren Geburtstage die Großmutter jedes Jahr von Neuem mit einem Anruf würdigte, bei dem sie zunehmend darüber sprach, wer alles gestorben war.
Unter dem Telefon lagerten die Schuhe meiner Großeltern, je ein Paar. Nachdem mein Großvater 2002 gestorben war, räumte die Großmutter seine Schuhe nach nur einem Tag fort. Das wirkte auf mich brutal. Erst später verstand ich, dass es nichts Traurigeres gibt als die Schuhe der Toten.
Die Urgroßmutter sieht die Geister ihrer Vergangenheit, die anderen aus den Zügen
Wir schliefen sommers im Kinderzimmer meiner Mutter, die uns im Weißsonntagsgewand mit Pagenschnitt von einem Bild an der Wand anstarrte, daneben ein Jesus am Kreuz. Kleiner als das Kreuz im Herrgottswinkel über dem Esstisch der Küche, aber doch als Ansage gemeint. Später starb in diesem Zimmer meine Urgroßmutter.
Die Großmutter hatte sie ein halbes Jahr lang gepflegt. In dieser Zeit konnten wir nicht bei der Großmutter übernachten. Und danach fand ich das Zimmer immer etwas unheimlich. Die Urgroßmutter hatte hier die Geister ihrer Vergangenheit gesehen – all die anderen Menschen aus den Zügen, die Frauen, unter deren Röcken sich Kinder versteckt gehalten hatten. Oft sagte sie: „Maria, jetzt geh, bitte tu’ doch die Leute hier raus.“
Als die Urgroßmutter hinausgetragen und weggefahren wurde, so erzählte es mir meine Großmutter, weinte die Großmutter vor der Haustür in ihre Schürze und fühlte sich wie damals als kleines Mädchen, als sie genau gleich da gestanden und in ihre Schürze geweint hatte, während das einzige Pferd der Familie gestorben und abgeholt worden war. Eine existenzielle Not. Das Erzählen reiht die Ereignisse zu einer Kette wie in einem Rosenkranz und verhindert das Vergessen. Die Großmutter war die assoziative Meisterin dieses Geschäfts.
Bei den Großeltern gab es keine Spielsachen. Das bedauerte die Großmutter, aber ich nahm ihr das Bedauern nicht ab. Sie wusste in Wahrheit nichts anzufangen mit den modernen Spielgeräten, die keinen Raum ließen für die eigene Fantasie. Wir spielten oft draußen im Garten, legten Steine im Kreis zu einer Feuerstelle und dekorierten die grellorangen Blüten der Tagetes, von der Großmutter Stinkete genannt, als Flammen in der Mitte. Wir legten Decken über die Leitern und bauten ein Haus. Wir spielten mit der Großmutter die Spiele ihrer eigenen Kindheit – „Kitz“, für das man nichts brauchte als ein paar Steine. Wir aßen die duftenden Tomaten direkt vom Stock. Langweilig war es nicht.
Das einzige Spielzeug, das die Großmutter hatte, war eine Brettspielsammlung, die in der aufklappbaren Eckbank in der Küche gleich neben ihrem Laiwel, ihrer beigen Strickjacke, lagerte. Die Sammlung stammte aus der Zeit, als die Mutter ein Kind gewesen war, und war von der Kind-Mutter verkritzelt worden. Achselzuckend sagte die Großmutter, man habe eben kein Papier gehabt damals. Die Spielesammlung verwirrte mich. Ich konnte mir die vernünftige Mutter nicht beim Spielbrett-Verkritzeln vorstellen, und es kam mir vor, als hätte hier einmal ein fremdes Kind gewohnt, das noch durch die Räume spukte, wenn meine Schwester und ich abends unter den Daunendecken lagen. Das Kind im Weißsonntagsgewand.
Als wir nach Tagen oder Wochen, wer weiß das schon, wieder wegfuhren, wurden die Großeltern im Rückspiegel kleiner und kleiner, winkten in hohen Bögen wie Flügelschlagen. Maria und Josef – immer schien es mir, als wären mit diesen Bibelgeschichten sie gemeint, die Darsteller einer großen Erzählung. Du bist ein Madár, sagte mein Großvater. Ich verstand es nicht, aber verstand es doch. Erst später lernte ich, Madár ist Ungarisch und heißt Vogel.