Die bekannte Urkunde der Landesverfassung ist nicht das Original vom 11. November 1953. Das authentische Dokument war lange Zeit unbekannt
Die verdächtige Spur lieferte das Landeswappen: Auf der bekannten Schmuckurkunde zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 findet sich neben den Unterschriften des Präsidenten der Verfassunggebenden Landesversammlung sowie den zwölf Mitgliedern der vorläufigen Landesregierung Baden-Württembergs wie selbstverständlich das geprägte Wappen des im Jahr zuvor gegründeten Südweststaates. Was auf den ersten Blick vollkommen schlüssig erscheint, hat jedoch bei genauerem Hinsehen einen Haken. Denn zum Zeitpunkt der Unterzeichnung 1953 existierte das Landeswappen noch gar nicht. Der Landtag hatte das „Gesetz über das Wappen des Landes Baden-Württemberg“ erst ein halbes Jahr später, am 3. Mai 1954, verabschiedet.
Dem heutigen stellvertretenden Leiter des Hauptstaatsarchivs in Stuttgart, Albrecht Ernst, war die Unstimmigkeit vor rund zwanzig Jahren im Vorfeld des damaligen 50. Verfassungsjubiläums aufgefallen. „Mit ein bisschen historischem Verständnis war klar, dass da etwas nicht stimmen konnte“, erinnert sich Ernst. Erschwerend hinzu kommt, dass in der Landesverfassung, die am 19. November 1953 in Kraft getreten war, in Artikel 24 eigens vermerkt ist, dass das Landeswappen erst noch durch Gesetz bestimmt werden müsse. Das geschah dann auch, aber eben erst Monate später: Über die Entwürfe des künftigen Wappens wurde im Landtag 1954 leidenschaftlich gestritten. Das Rennen machte schließlich der Wappenentwurf des Grafikers Fritz Meinhard.
Rätsel um die Verfassungsurkunde
Um das Rätsel um die Verfassungsurkunde zu lösen, begab sich Albrecht Ernst 2003 auf die Suche nach der damals vergessenen authentischen Urkunde. Eine solche musste existieren. Fündig wurde er relativ rasch in den Gesetzesakten, die sich in der Obhut des Hauptstaatsarchivs befinden. Das damals wiederentdeckte, völlig schmucklose Blatt besteht aus einfachem säurehaltigem Papier. An dem vergilbten Dokument nagt sichtlich der Zahn der Zeit. „Auf Äußerlichkeiten legte man damals offensichtlich keinen Wert“, erklärt Albrecht Ernst. Das Dokument sei von geradezu „schwäbischer Schlichtheit.“ Bemerkenswert allerdings: Zwei der Unterzeichner, Ministerpräsident Gebhard Müller und Kultusminister Wilhelm Simpfendörfer, unterschrieben die Verfassungsurkunde mit Bleistift. „Vermutlich hatten sie kein anderes Schreibutensil zur Hand“, sagt Ernst.
Verräterisches Prägesiegel
Und das allseits bekannte, jedoch „falsche Original“? Das entstand in doppelter Ausfertigung erst 1955, erklärt der Archivar. Anlass war eine Landesausstellung, bei der das identitätsstiftende Staatsdokument der Öffentlichkeit präsentiert werden sollte. Die aufwendig in Pergament gebundene, zurückdatierte und mit dem verräterischen Prägesiegel versehene Schmuckurkunde musste von denselben Personen, die schon zwei Jahre zuvor unterzeichnet hatten, noch einmal unterschrieben werden. Mit dem schlichten echten Original von 1953 war im Wortsinn kein Staat zu machen.
Weil der ganze Vorgang im Laufe der Jahrzehnte in Vergessenheit geriet, war es fortan diese 1955 entstandene Schmuckurkunde, die stellvertretend für die Staatswerdung Baden-Württembergs stand. Als vermeintlich originale Verfassungsurkunde fand sie ihren Weg auch in die Schulbücher.