Wen der Quilt-Virus gepackt hat, den lässt er nicht mehr los. Leonore Hasselmeier arbeitet an einem weiteren großen Quilt. Foto: Tröger

Das Quilten ist zum einen eine uralte Textil-Technik, die ursprünglich aus China stammt und zum anderen ein überaus kunstvolles, kreatives Handwerk. Es ist wie ein Virus, den man nicht mehr los wird, wie die Gechingerin Leonore Hasselmeier ihr Hobby beschreibt.

Gechingen - Bei einer Tasse Kaffee auf ihrem Balkon in Gechingen blickt die 90-jährige weit zurück. 1964 zog sie mit ihrem Mann für drei Jahre nach Amerika, in die Nähe von San Francisco. Etwa zwei Wochen nach ihrer Ankunft dort wurde sie von einer Nachbarin eingeladen, die ihr eine Quilt-Decke ihrer Großmutter zeigte, einen "Blumengarten". Diese klassische Form besteht aus sechseckigen Patches, die wiederum aus kleineren Sechsecken aus unterschiedlichst gemusterten Stoffen oder Stoffresten, auf einem neutralen Untergrund angeordnet sind. "Das hat mich damals schon fasziniert. Aber wir hatten kleine Kinder. Ich hätte gar keine Zeit gehabt für solche Handarbeiten", erzählt sie, wie der Virus sie erwischte.

Bis zu einem Jahr für ein Exemplar

Ab 1984 waren die Hasselmeiers für weitere fünf Jahre in den USA. In der Nähe ihrer dortigen Wohnung gab es einen Quilt-Laden. So ein Teil kann nicht billig sein, braucht’s doch laut Hasselmeier ein halbes bis ein Jahr, bis es fertig ist. "Ich hab’ mir damals vorgenommen, da spare ich jetzt und nehme mir einen mit, wenn wir wieder zurückgehen." Es ging jedoch schneller: "Ich habe mir den Knöchel gebrochen und mein Arzt verordnete mir drei Monate Schonung auf dem Sofa." Und da entschloss sie sich: "Jetzt mach ich mir selbst einen Quilt." Jetzt hatte sie Zeit, die Kinder waren groß und aus dem Haus.

Stoffschrank ist übervoll

In der Summe hat sie bis heute 42 wunderschöne Quilts geschaffen, und zwar großformatige Decken, für Einzel- oder Doppelbetten, die auch in Gebrauch sind. Im eigenen Haushalt und in den Familien der Kinder. "Oma, ich möchte auch einen Quilt, aber keinen mit Blümchen", hat sich einer ihrer Enkel als Siebenjähriger vor vielen Jahren gewünscht. Gleich zu Beginn unseres Besuchs zeigt sie uns im Eingangsbereich ihren Stoffschrank, voll mit einer Unzahl an Mustern und Farben. Da habe ihr Sammlertrieb zugeschlagen, gesteht sie, an schönen Stoffen konnte sie nie vorbeigehen. "Ich muss hundert Jahre alt werden, bis ich die alle verarbeitet habe", sagt sie lachend. In ihrem Arbeitszimmer hat die Gechingerin eine gepolsterte Stellwand aufgestellt, bezogen mit gerastertem Papier, auf das schon hunderte kleiner grüner und bunter Sechsecke gepinnt sind: Hier entsteht das nächste Kunstwerk.

Große Fingerfertigkeit und viel Fantasie

Leonore Hasselmeier besitzt eine große Fingerfertigkeit und eine genau so reiche Kreativität und Fantasie, wie die einzelnen Objekte aus ihrer Hand zeigen, die sie stolz präsentiert. Wobei sie einschränkend anmerkt: "Die Finger wollen nicht mehr so flink wie früher und auch die Augen lassen nach." Trotzdem "stichelt" sie unermüdlich am aktuellen Quilt, "wenn die Fernsehsendung nicht so spannend ist, zum Beispiel."

Riesiger Wissensschatz zum Ursprung

Sehr beeindruckend ist der riesige Wissensschatz der passionierten Quilterin zur Historie, den Techniken, zu den klassischen Mustern und Stilen sowie den heutigen freien Ausprägungen. Von China aus verbreiteten sich gequiltete Textilien im gesamten Orient und ab dem 14.Jahrhundert als Kleidung, Decken und Wandteppiche auch in England. Bei den frühen amerikanischen Siedlern waren Stoffe und Textilien Mangelware, und so wurde alles mehrfach, auch noch als kleine Stoffstücke, wiederverwendet. Ab damals bildete sich dort aus dem Patchwork gemeinsam mit dem Quilten die handwerkliche Kunstform. Die Siedlerfrauen trafen sich zu sogenannten "Quilting Bees", "wo geratscht und gemeinsam gestichelt wurde", so Hasselmeier.

Besondere Decken bestehen aus drei Lagen

Doch was genau ist jetzt ein Quilt (gesprochen ‚kwɪlt‘)? Er besteht traditionell aus drei Lagen: der Oberseite oder Schauseite, einer Schicht aus Wollvlies oder Wattierung und einer Rückseite. Diese drei Lagen werden über die ganze Fläche mit Steppstichen von Hand (heute auch teilweise mit der Nähmaschine) kunstvoll zusammen gequilted und so verstärkt. Die Oberseite besteht in den meisten Fällen aus kleineren, zusammengenähten Stoffstücken, einem Patchwork. Sind das unregelmäßige Stücke, wird es ein "Crazy Quilt", sind es regelmäßige Formen wie die Sechsecke, oder auch Streifen oder Quadrate, spricht man von einem "Pieced Quilt". Eine Streifen-Anordnung nennt sich dann beispielsweise "Blockhouse". Quadrate, von der Mitte aus in Rautenreihen nach außen angeordnet, ergeben einen "Round the World"-Quilt. Kleine Rautenmuster über die Oberseite verteilt angeordnet werden ein "Round The Garden".

Trauer-Quilt aus der Kleidung Verstorbener zur Erinnerung

Quilts wurden traditionell auch zu verschiedenen Anlässen gefertigt: aufwendiger und wertvoller als Aussteuer oder Hochzeitsquilt, als Schmuckstücke in einer kargen Blockhütte oder auch als Trauer-Quilt aus der Kleidung Verstorbener zur Erinnerung. "Auf den Gästebetten bei Präsident George Washington lagen teilweise drei bis vier Quilts", weiß Hasselmeier aus historischen Überlieferungen zu berichten. Im Victoria & Albert-Museum in London hat sie sich die Quilt-Ausstellung in der obersten Etage angesehen und ist fasziniert: "Da hält man nur die Luft an."

Gründerin der "Sticheltanten"

Mit ihrer Leidenschaft fürs Quilten hat Hasselmeier 1990, als sie wieder zurück aus den USA war, weitere Frauen angesteckt und die Gruppe "Die Sticheltanten" im Gechinger Nachbarort Dachtel gegründet. "Wir waren 15 Frauen und haben unsere Werke mehrfach im Deufringer Schloss ausgestellt." Und jedes Mal wurde ein Exponat für einen guten Zweck verlost. Corona hat die regelmäßigen Treffen der "Sticheltante"n verhindert, einmal habe man sich noch getroffen seither. "Wir sind jetzt nur noch zu viert, die anderen sind leider schon verstorben", bedauert Hasselmeier. Sie macht in ihrem Tempo weiter, Stoffe und Ideen hat sie noch viele. Und für sie hat das Quilten noch einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Mehrwert : "Ist der Quilt fertig, ist das Problem gelöst." Will sagen: Man hat beim stetigen Sticheln viel Zeit, über so manches nachzudenken.