Der Soziologe Stefan Selke hinterfragt, was in Unterkirnach gerade passiert.Foto: Schimkat Foto: Schwarzwälder Bote

Aufreger: Petition gibt für Stefan Selke Anlass, über die Demokratiefähigkeit Unterkirnachs zu sinnieren

"Ist Unterkirnach eine demokratiefähige Gemeinde?" Diese Frage stellt sich Stefan Selke, der seit 2017 in Unterkirnach wohnt, im Gespräch mit unserer Zeitung kommt er sofort auf den Punkt.

Unterkirnach. "Ich engagiere mich hier als Privatperson mit passendem beruflichem Hintergrund für das Ziel, betroffene Bürger angemessen und rechtzeitig an kommunalen Entscheidungsprozessen zu beteiligen", erklärt Stefan Selke.

Konkreter Anlass ist gegenwärtig ein neuer Flächennutzungsplan, der vorsieht, landwirtschaftliche Nutzfläche in touristische Nutzung – eine Ferienhaussiedlung mit so genannten Tiny Houses und möglicherweise sogar Stellplätzen für Wohnwagen – umzuwandeln.

Bislang seien die Bewohner von Unterkirnach nicht in dem Maße partizipativ am Entscheidungsprozess beteiligt, wie es der Gesetzgeber vorsehe. Selke forschte unter anderem am Institut für Regionalwissenschaft (IfR) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Dort ging es immer wieder im Planungsverfahren sowie Sozial- und Umweltverträglichkeitsprüfungen in ähnlichen Projekten.

Insgesamt weist Selke darauf hin, dass es einen umfangreichen Werkzeugkoffer an Methoden gibt, um Bürger vor Ort einzubinden – man müsse es eben nur wollen und machen. Die Tatsache, dass er von dem geplanten Projekt durch einen Nachbarn erfahren habe, zeige doch, dass vor Ort die Transparenz sowie der Wille fehle, hier von Anfang an auf Dialoge mit den Bewohnern zu setzen. Obwohl er erst seit wenigen Jahren in Unterkirnach lebt, identifiziert sich Selke mit dem Ort. "Gerade deshalb ist Kritik notwendig", denn Unterkirnach besitze "das bestimmte Etwas", das viele Bürger sowie Feriengäste schätzen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum derartige Qualitäten in Entscheidungsverfahren mit großer Tragweite nicht angemessen berücksichtigt werden.

Bei der Beobachtung des Prozesses, so Selke weiter, dränge sich der Eindruck auf, dass das übliche Verfahren auf den Kopf gestellt worden sei: "Das wirkt gegenwärtig wie das Trojanische Pferd, das ins Dorf gerollt wurde", so Selke. Und er bleibt bei klaren Worten: "Ein Gemeinderat und ein Bürgermeister haben keine Legitimation, eine Entscheidung derartiger Tragweite ohne vorherige Bürgerentscheidung zu beschließe. Vor allem deshalb, weil damit irreversible Folgen auch für die nächste Generation verbunden sind. Kein Wunder also, dass besorgte Bürger eine Petition einreichen." Auch in der Praxis kommunaler Politik sollte man der Idealvorstellung dialogischer Aushandlungsprozesse und demokratische legitimierter Entscheidungen möglichst nahe kommen. In diesem Sinne sieht Selke das Dorf als ein "Labor für die Demokratiefähigkeit" einer ganzen Region an. Schließlich gibt es an anderen Orten durchaus vergleichbare Prozesse.

Selke spricht noch einen besonderen Fall in der Argumentation an. "Wer daran glaubt, dass keine Kosten auf die Gemeinde zukommen, ist entweder naiv oder handelt verantwortungslos", so Selke. Es koste immer etwas, wenn besondere Werte wie beispielsweise die Ästhetik einer Landschaft verlorengingen. Das "gewisse Etwas" hat eben auch seinen Preis. Wird die Offenheit der Landschaft zerstört, kostet das mehr als nur den Blick. Langfristig verliere die Gemeinde viel, wenn dafür Spaltungen und Konflikte in Kauf genommen werden. Der Soziologe hat auch ältere Dokumente studiert – interessanterweise kehren die zentralen Argumente immer wieder. Schon als auf der Ackerlochfläche ein Campingplatz gebaut werden sollte, bangten die Bürger um das "gewisse Etwas". Das zeige einerseits, dass es sich hier um einen zeitlosen Wert handele, betont Selke, und andererseits, dass sich keine Gemeinde dauerhaft unzufriedene Bürger und einen Vertrauensverlust leisten könne.

Einerseits habe Rolf Weißer ein legitimes Interesse und Recht, Eigentum zu verkaufen, andererseits stelle sich die Frage, wie sich dieser Verkauf im Verhältnis zum Gemeinwohl verhalte. Um hier zu einer ausgeglichenen Entscheidung zu kommen, hätte es vorab eines Bürgerdialogs bedurft, meint Selke. Seltsamerweise sei das aber übersprungen und damit eine demokratische Tugend verletzt worden. Das Ergebnis dessen sei die aktuelle Diskussion und nicht zuletzt die Petition.

"Ich erwarte, dass das Verfahren transparent gemacht und auf Null gesetzt wird", appelliert Selke deutlich. Die Bürgerbeteiligung sollte am Anfang stehen und nicht am Ende. Und er fügt noch eine wichtige Unterscheidung hinzu: "Außerdem sollte klar sein, dass eine Informationsveranstaltung noch keine Bürgerbeteiligung darstellt". Schließlich handele es sich bei der Umwandlung des Ackerlochs um ein Thema mit einer gewissen Tragweite. Klärungsbedarf ziehe Handlungsbedarf nach sich. Unter dem Strich sieht Selke die Diskussion positiv. Konflikte seien gut, weil sie zeigen, was Menschen wichtig ist. Innerhalb demokratischer Strukturen haben Bürger das Recht, Entscheidungen, von denen sie betroffen sind, an deren Aushandlung sie aber nicht beteiligt waren, anzufechten. Der Prozess sei eigentlich logisch und selbstverständlich.

Zuerst benötige man eine gesicherte und transparente Faktenlage, danach sollte die Bürgerbeteiligung folgen, anschließend die Zukunftsentscheidung. Als Zugezogener hat Selke bemerkt, dass viele Bürger von Unterkirnach einen Erfahrungshintergrund haben, der sie skeptisch werden ließ. Es werde einen erheblichen Kraftaufwand bedeuten, wieder Vertrauen zu schaffen.

Selke hofft, dass die Bürger die richtigen Hebel ansetzen, dann werde Unterkirnach eine Vorzeigegemeinde, eben ein Labor der Demokratiefähigkeit in der ländlichen Region.

Ein Auszug aus der Vita von Stefan Selke: 1993 bis 1998 Magister in Soziologie, Portugiesische Literatur und Anthropogeografie Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. 1987 bis 1991 Studium der Luft- und Raumfahrttechnik an der Fachhochschule Aachen, 2001 Promotion in Soziologie. Mehrere berufliche Stationen, unter anderem Vertretungsprofessor für Soziologie an der Polizeihochschule in Villingen, akademischer Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe sowie am Karlsruher Institut für Technologie KIT. Seit 2008 Professor für gesellschaftlichen Wandel sowie erste Forschungsprofessor der Hochschule Furtwangen für "Transformative und öffentliche Wissenschaft". Seit 2018 Gastprofessor an der University Huddersfiel in England. Arbeits- und Forschungsschwerpunkte Gesellschaftlicher Wandel, Wechselwirkungen sozialer und technischer Innovationen, schleichender Wandel, Digitalisierung und soziale Utopien. Selke hat rund 150 Fachpublikationen, mehr als 100 Beiträge für internationale Zeitungen und Magazine sowie rund 20 Bücher geschrieben. Sein Medienecho umfasst rund 50 TV-Auftritte und 150 Radiosendungen seit 2009.