Foto: Leif Piechowski

Im Nordosten Deutschlands werden immer wieder islamische Münzen aus dem 10. Jahrhundert gefunden. Ein Forscher aus Tübingen beschäftigt sich mit der Frage, wie sie dort hingelangten.

Im Nordosten Deutschlands werden immer wieder islamische Münzen aus dem 10. Jahrhundert gefunden. Ein Forscher aus Tübingen beschäftigt sich mit der Frage, wie sie dort hingelangten.

Tübingen - Lutz Ilisch fährt die Wolga hinauf, vom Kaspischen Meer durch die Weiten Russlands bis ganz in den hohen Norden. – nur in Gedanken. In Wirklichkeit sitzt er in seinem Büro in Tübingen und hält ein büroklammergroßes Fragment einer orientalischen Silbermünze in den Händen, die vor über 1000 Jahren genau diesen Weg zurückgelegt haben muss. Sie ist Teil eines kürzlich gefundenen Schatzes aus dem mecklenburg-vorpommerschen Drewelow, den der Forscher mit einer Gruppe Studenten derzeit untersucht. Ilisch ist Leiter der Forschungsstelle für Islamische Münzkunde an der Universität Tübingen. Er ist einer von wenigen Experten weltweit, die sich auf die Münzen aus dem Orient spezialisiert haben. Mit über 65 000 Exemplaren ist die Tübinger Sammlung die größte in Deutschland. Genug Material, um Fragmente wie aus dem Schatz von Drewelow vergleichen und einem Herkunftsort zuordnen zu können.

Früher Welthandel

Der Fund von Drewelow, etwa 160 zerschnittene Münzen, wirft ein Schlaglicht auf den Fernhandel, der vor über 1000 Jahren zwischen dem Ostseeraum und der islamischen Welt stattgefunden hat. Das Silber stammt zum großen Teil aus dem heutigen Usbekistan. Dort herrschten vor tausend Jahren die mächtigen Samaniden-Emire. Seit dem 18. Jahrhundert werden von Wikingern verborgene Silberschätze aus dem Samanidenreich in den Anrainerstaaten der Ostsee dokumentiert. Insgesamt, schätzen Forscher, sind im neunten und zehnten Jahrhundert  mehrere Millionen Silber-Dirhams aus Zentralasien dorthin gelangt. Weil islamische Geldstücke fast immer mit einem Datum und Prägeort versehen sind, kann Ilisch genau feststellen, von wann und woher die Münzen stammen. Doch das ist mühsame Puzzle-Arbeit, denn kaum ein Stück aus dem Fund von Drewelow ist vollständig. „Die Münzen wurden zerkleinert, weil sie nicht genormt waren. Man hat einfach nach Gewicht bezahlt und, wenn es sein musste, das Hartgeld zerbrochen“, sagt Ilisch. Passend dazu fand man in Drewelow auch zwei zusammenklappbare Waagen. Oft kann Ilisch die Münz-Fragmente nur anhand von Details wie dem persönlichen Stil des Stempelschneiders bestimmen.

Wikinger des Ostens

Das zentralasiatische Silber gelangte meist durch Waräger an die Ostsee, wie die Wikinger im Osten Europas genannt wurden. Die Waräger fuhren mit ihren Schiffen die Flüsse Wolga, Don und Dnjepr hinab. Sie trieben Handel mit den Völkern im Süden des heutigen Russlands, den jüdischen Khasaren und den muslimischen Wolga-Bulgaren, die selbst weite Strecken in Kamelkarawanen zurücklegten, um Geschäfte zu machen. Bezahlen ließen sich die Nordmänner für ihre Güter mit dem Silber, das heute überall an der Ostsee zu finden ist. Warum die Wikinger ihr Silber vergruben, ist allerdings unklar, „Möglicherweise glaubten sie, dass es ihnen im Jenseits wieder zur Verfügung stehen würde“, sagt Ilisch. Der Fund von Drewelow stammt vermutlich aus dem Geldbeutel eines slawischen Bauern und war diesem vielleicht bei kriegerischen Auseinandersetzungen verloren gegangen.

Sklaven für Silber

Bernstein, Pelze von Nagern wie dem marderähnlichen Zobel und Sklaven: Das scheinen die Handelsgüter gewesen zu sein, die im Austausch für das Silber von der Ostsee in den Orient gelangten. Junge Frauen waren als Haushaltsgehilfen und Konkubinen in den islamischen Staaten geschätzt, und junge Männer wurden als Kriegssklaven eingeführt. Seit die Kalifen in Bagdad Mitte des neunten Jahrhunderts eine Armee aus Sklaven geschaffen hatten, war der Hunger der islamischen Herrscher nach der Ware Mensch nicht mehr zu stillen. Es wurde zu ihrem Verhängnis, denn es dauerte nicht lange, bis von Ägypten bis Indien ehemalige Kriegssklaven selbst die Regierungsgeschäfte übernahmen. Manche Forscher glauben, dass Sklaven sogar das wichtigste Handelsgut zwischen der Ostsee und Zentralasien waren, doch um das zu beweisen, muss die Herkunft möglichst vieler Fundstücke genau bestimmt werden. „Viele Münzen stammen aus der heutigen Hauptstadt Usbekistans, Taschkent, dem wichtigsten Sklavenmarkt damals. Das könnte ein Hinweis sein“, sagt Lutz Ilisch.

Umkehr des Handels

Gegen Ende des zehnten Jahrhunderts versiegte dann der Silberstrom aus Zentralasien abrupt. Über die Gründe wird bis heute spekuliert. Tatsache ist, dass die orientalischen Münzen von Silbergeld aus Deutschland abgelöst wurden. „Von da an wurde massiv Silber im Harz und nördlichen Baden-Württemberg abgebaut“, sagt Christoph Bartels, emeritierter Montanhistoriker des Deutschen Bergbaumuseums in Bochum. Eine Forschergruppe aus England vermutet, dass Sklaven von da an durch Deutschland und Frankreich bis ins islamische Spanien gehandelt wurden. Doch um mehr über den mittelalterlichen Fernhandel herauszufinden, haben Lutz Ilisch und seine Studenten noch viel Puzzle-Arbeit vor sich.