23 Prozent aller Stuttgarter sind ehrenamtlich tätig. Das Angebot, sich in der Stadt zu engagieren, scheint grenzenlos. Und der Bedarf an Freiwilligen wächst – vor allem bei den sozialen Trägern und in der Bildung. Eine umstrittene Entwicklung.
Stuttgart - Helden des Alltags werden überall gesucht. Als Lese-Opa oder Lern-Pate. Im Hospiz, der Altenpflege, beim Sport, im Musikverein, im Theater oder im Museum. Ehrenamtliche sind gefragt wie nie. Die letzte Bürgerbefragung in Stuttgart zeigte einen leichten Zuwachs bei den Ehrenamtlichen. Im Zeitraum von 2005 bis 2009 kletterte die Zahl der volljährigen Stuttgarter Freiwilligen von 21 auf 23 Prozent. Eine andere Zahl klingt drastischer: Die Neue Arbeit, ein sozialer Träger, beschäftigte 2008 nur drei Ehrenamtliche. 2011 zählte man dort 112. Auch beim Caritas-Verband spielen die Freiwilligen eine große Rolle. „Manche Dienste könnten ohne die Ehrenamtlichen gar nicht mehr ihre grundsätzliche Arbeit leisten“, sagt Ulrike Holch, Leiterin des Caritas-Freiwilligen-Zentrums, „die Notwendigkeit, Ehrenamtliche einzusetzen, steigt.“
Es sind Tendenzen, die kritische Geister wecken. Einer ist Professor Stefan Selke von der Hochschule Furtwangen. In seinem Buch „Schamland“ stellt der Sozialwissenschaftler fest: „Freiwilliges Engagement entlässt den Staat zunehmend aus seiner Verantwortung.“ Wer Staat durch Kommune ersetzt, landet in Stuttgart und der Frage: Entziehen sich die Stadt, freie Träger und Kirchen wegen eines steigenden Kostendrucks ihrer Verantwortung? Ersetzt das Heer der Ehrenamtlichen immer mehr die Hauptamtlichen? Dazu zwei Beispiele: Weil die Arbeit der Klinikseelsorger anspruchsvoller wird, antworten die Kirchen auf den gestiegenen Bedarf an Personal und Qualität nicht mit der Aufstockung durch Profis. Stattdessen unterstützen bald 22 Ehrenamtliche die 28 Pfarrer.
Ein anderes Beispiel ist der geplante Umbau des Sozialamtes. Dort soll bürgerschaftliches Engagement verstärkt eingesetzt werden. Sozialbürgermeisterin Isabel Fezer schreibt dazu in einer Vorlage an den Gemeinderat: „Die bisherigen professionellen Angebote kommen langfristig ohne das Engagement Ehrenamtlicher nicht mehr aus . . . so können die knappen Ressourcen ergänzt werden.“
„Öffentliche Haushalte dürfen nicht auf Kosten des Ehrenamtes saniert werden“
Diese Entwicklung wird von Fraktionsvorsitzenden kritisch betrachtet – abgesehen davon, dass sie alle das Ehrenamt in den meisten Bereichen für unersetzlich halten. So meint Bernd Klinger (FDP): „Wir dürfen Aufgabenstellungen der Kommune nicht aufs Ehrenamt abwälzen. Man muss genau hinsehen, sonst ist es irgendwann ausgereizt und stößt an Grenzen.“ Ähnlich sieht es Alexander Kotz (CDU): „Wir müssen ein Auge drauf haben. Öffentliche Haushalte dürfen nicht auf Kosten des Ehrenamtes saniert werden.“ Auch Roswitha Blind (SPD) mahnt: „Das Ehrenamt darf das Hauptamt nicht ersetzen, nur weil Geld fehlt.“ Noch schärfer formuliert Hannes Rockenbauch (SÖS) seine Bedenken: „Es ist eine kritische Entwicklung. Das Ehrenamt greift immer stärker auch in Bereiche der Daseinsvorsorge ein, die kommunale oder städtische Angelegenheiten sein sollten.“ In Bildung, Pflege oder Betreuung. „Das sind alles Felder für bezahlte Arbeit. Eigentlich ist das Ehrenamt von seinem Ansatz her dafür viel zu schade.“
Noch mehr Sorgen machen sich Hannes Rockenbauch und Roswitha Blind um die Entwicklung im Bereich der Ganztagsschule. Hier sieht das pädagogische Konzept vor, dass ehrenamtliche Kräfte aus dem Sport oder dem musischen Bereich wichtiger Bestandteil des Unterrichts sind. „Hier werden Ehrenamtliche zur Betreuung der Kinder als Grundbaustein genutzt. Nicht als zweiter oder dritter Helfer des Lehrers. Nein, als Nummer eins.“ Blind ergänzt: „Hier dürfen Vereine nicht in erster Line für hauptamtliche Aufgaben einspringen.“
Keine Konzepte für das rechte Maß
Will die Verwaltung wirklich nur Geld sparen? Reinhold Halder, Leiter der Stabsstelle zur Förderung des bürgerschaftlichen Engagements, nimmt diese Frage ernst, kommt aber zu dem Schluss: „Ich sehe da keinen bösen Wolf, der sich in einem politischen System so etwas ausdenkt und das Ehrenamt schamlos ausnutzt.“
Damit ist er auf einer Linie mit Bürgermeisterin Fezer. „Es geht nicht darum, Geld zu sparen. Manchmal wäre es sogar günstiger, einen Hauptamtlichen einzusetzen, anstatt teure Ehrenamtsstrukturen aufzubauen.“ Weil sich die Gesellschaft aber gewandelt habe, müsse man den Umgang mit bürgerschaftlichem Engagement anpassen. Stichworte seien abnehmende familiäre Strukturen und der demografische Wandel. „Vor diesem Hintergrund hat die Verankerung von bürgerschaftlichem Engagement als Teil der Daseinsfürsorge eine bedeutende Funktion.“ Freilich stellt sich die Frage nach dem rechten Maß. Hier hat Fezer noch keine fertigen Konzepte. „Da wollen wir am Beispiel des Sozialamtes Antworten finden und in einem großen Wurf angemessen mit der Problematik umgehen“, verspricht sie.