Die Barrikaden im Zentrum von Kiew wachsen weiter. Die Ukrainer sind entschlossen, ihren „Krieg“ gegen den prorussischen Präsidenten Janukowitsch bis zum „Sieg“ zu führen. Das einzige, was die Opposition akzeptiert, sind Neuwahlen.

Die Barrikaden im Zentrum von Kiew wachsen weiter. Die Ukrainer sind entschlossen, ihren „Krieg“ gegen den prorussischen Präsidenten Janukowitsch bis zum „Sieg“ zu führen. Das einzige, was die Opposition akzeptiert, sind Neuwahlen.

Kiew - Selbst im härtesten Frost seit Winterbeginn schwillt der Widerstand ukrainischer Bürger gegen den prorussischen Präsidenten Viktor Janukowitsch rasant an. Bei minus 22 Grad wachsen die Barrikaden auf dem zentralen Prachtboulevard Kreschtschatik und auf dem Maidan (Unabhängigkeitsplatz). Überall rücken die Menschen unter der Losung zusammen, Janukowitsch zu Neuwahlen zu zwingen. Das Herz der Millionenstadt ist eine Festung mit wenigen Schlupflöchern.

An der Gruschewski-Straße am Regierungsviertel werfen Vermummte Pflastersteine auf Sicherheitskräfte, die den Präsidentensitz verteidigen. Der Rauch brennender Autoreifen ätzt sich in die Lungen derer, die hier seit Tagen am Frontverlauf ausharren. Am Europaplatz erstürmen Regierungsgegner das große Kongresszentrum. Zehntausende sind in der Stadt, um am Sonntag die neue Eroberung zu begutachten. Das einstige Lenin-Museum bietet den Janukowitsch-Gegnern ein strategisch wichtiges Lager zum Aufwärmen und Kraft tanken.

Immer neue Siege können die pro-westlichen Regierungsgegner vorweisen. Janukowitsch weicht zurück. Damit wächst die Hoffnung auf Neuwahlen. Allerdings gibt es im bevölkerungsreichen Osten der Ukraine weiterhin viele Janukowitsch-Unterstützer.

„Wir akzeptieren nur eine Lösung ohne Janukowitsch“, sagt Alexander Daniljuk. Der 32-jährige Wirtschaftsberater führt das Kommando im besetzten Agrarministerium am Kreschtschatik. Seine Bewegung Spilna sprawa (Gemeinsame Sache) gehört mit vielen neu entstandenen Gruppierungen zu den Triebkräften um den Maidan.

Die besetzten öffentlichen Gebäude, die Barrikaden aus gefüllten Plastiksäcken und die Feldzelte inmitten der Millionenmetropole zeugen davon, dass Janukowitsch die Kontrolle über zentrale Teile der Stadt verliert. Im Gewerkschaftshaus und in anderen Gebäuden ruhen sich Menschen auf Iso-Matten und in Schlafsäcken aus. Ärzte, Kosaken und Kirchenleute helfen, das Chaos zu ordnen.

"Die Mächtigen haben dem Volk den Krieg erklärt"

Es sind Menschen jeden Alters, einfache Arbeiter, Mittelständler, Staatsbedienstete und Intellektuelle, die hier ausharren. Viele kommen aus dem an Polen grenzenden Westen des Landes. Und es sind Menschen ganz unterschiedlicher politischer Anschauungen, die sich vereinen. „Die Mächtigen haben dem Volk den Krieg erklärt“, lautet eine Standardantwort auf die Frage danach, warum sie hier sind.

Zwar verhandelt die unter anderem von Boxer Vitali Klitschko und dem Ex-Parlamentschef Arseni Jazenjuk geführte Opposition weiter mit dem aus der Ostukranische stammenden Janukowitsch. Dessen Zugeständnisse gehen sogar soweit, Jazenjuk und Klitschko an der Regierung beteiligen zu wollen. Das klingt wie ein Sieg für die Opposition. Aber die Anführer wissen, dass sie das nicht annehmen können. Sie würden als „Verräter der Revolution“ davongejagt.

Kämpfen statt Verhandeln lautet die Devise, wie Daniljuk von der Volksbewegung Spilna sprawa betont. „Die Opposition mit Klitschko und den anderen hat zu lange gezögert. Seit zwei Monaten sind die Massen auf der Straße - zeitweilig bis zu einer Million. „Es wäre ein Leichtes gewesen, mit dieser Menge das Regierungsviertel zu stürmen und die Macht in die Hand zu nehmen“, meint er.

Nicht nur Daniljuk ist sicher, dass die inhaftierte Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko die Revolution schneller zum Ziel geführt hätte. „Sie ist die einzige eigenständige Politikerin, die Janukowitsch wirklich die Stirn bieten kann. Deshalb hat er sie ins Gefängnis gebracht“, sagt Daniljuk. Er sieht eine Zukunft nur mit ihr als Präsidentin.

Viele auf der Straße sind für den „Kampf in der Hauptstadt“ erst angereist, als es die ersten tödlichen Schüsse auf Demonstranten gab. Ein Trauerzug erinnert am Sonntag an die Toten. Mit Knüppeln in der Hand, mit Helmen und Sturmmasken schimpfen Protestler, dass sie Janukowitsch nichts mehr glauben können. „Er ist ein Diktator“, sagt der 37 Jahre alte Geschichtslehrer Michail Gurik aus Ternopol. Mit der Gewalt gegen das eigene Volk habe Janukowitsch die rote Linie überschritten. „Ich bleibe bis zum Sieg“, verkündet Gurik.

Auch Klitschko greift am späten Samstagabend auf der Protestbühne am Maidan die Stimmung auf: „Wir weichen nicht in Kiew und nicht in den Regionen.“ Überall im Protestzentrum hängen Plakate mit Janukowitsch und seinem Regierungschef Nikolai Asarow hinter Gitterstäben. Die Bildmontagen zeigen auch den Zeitpunkt der „Befreiung der Ukraine von der Diktatur“: 2014.