Foto: dpa

Erstmals schlagen am Sonntagmorgen Raketen bei Lwiw (Lemberg) ein. Bei heftigen Gefechten im Umkreis von Kiew wird ein US-Journalist getötet. In Deutschland gehen Zehntausende gegen den Krieg auf die Straße.

Ein Raketenangriff nahe der Grenze zu Polen und heftige Gefechte in der Umgebung von Kiew - trotz internationaler Appelle für eine Waffenruhe wütet der Krieg in der Ukraine mit unverminderter Grausamkeit weiter. Der Protest gegen das Vorgehen der russischen Regierung verbindet Menschen in der besetzten ukrainischen Stadt Cherson und in Moskau ebenso wie Zehntausende in Berlin, Stuttgart und anderen Städten.

Bei einem Raketenangriff auf einen Truppenübungsplatz unweit der Stadt Lwiw (Lemberg) wurden am Sonntagmorgen nach ukrainischen Angaben mindestens 35 Menschen getötet und 134 verletzt. In Lwiw sammeln sich seit Tagen zahllose Flüchtlinge aus den umkämpften Regionen der Ukraine, um nach Polen zu gelangen. Der Übungsplatz Jaworiw liegt nur etwa 15 Kilometer von der Grenze zum EU- und Nato-Mitglied Polen entfernt. Dort waren vor dem Krieg auch Militärausbilder aus Nato-Staaten tätig. Videos und Fotos zeigten schwere Zerstörungen. Gebietsgouverneur Maxym Kosyzkyj teilte mit, es seien mehr als 30 Raketen abgefeuert worden.

Kiew bereitet sich auf vollständige Blockade vor

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow forderte nach dem Angriff erneut eine international kontrollierte Flugverbotszone über der Ukraine. Dies wurde von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem Interview der Zeitung „Welt am Sonntag“ nochmals abgelehnt.

Nach dem Raketenangriff nahe der polnischen Grenze bekräftigte das US-Verteidigungsministerium die Beistandsverpflichtung der Nato-Staaten. „Ein bewaffneter Angriff gegen einen wird wie ein bewaffneter Angriff auf alle bewertet“, sagte Sprecher John Kirby am Sonntag dem TV-Sender ABC. Dies sei auch der Grund, warum die US- und Nato-Streitkräfte ihre Präsenz an der östlichen Grenze des Bündnisgebiets verstärkten.

In der Ortschaft Irpin nordwestlich von Kiew wurde am Sonntag nach ukrainischen Angaben ein US-Journalist getötet, ein zweiter wurde verletzt. Die beiden Männer sollen demnach unter russischen Beschuss geraten sein. Aus Moskau gab es dazu zunächst keine Angaben.

Rund um die ukrainische Hauptstadt kam es nach ukrainischen Angaben auch am Sonntag zu heftigen Kämpfen, etwa in Irpin und weiter westlich in Makariw. Am Samstag gelang es, etwa 20 000 Menschen aus Orten im Umkreis von Kiew in Sicherheit zu bringen.

Die Hauptstadt bereitet sich auf eine mögliche vollständige Blockade durch russische Truppen vor. Es seien Vorräte mit Lebensmitteln angelegt worden, um zwei Millionen Kiewer zwei Wochen lang zu versorgen, sagte der stellvertretende Leiter der Stadtverwaltung, Walentyn Mondryjiwskyj, am Sonntag. „Diese zwei Millionen Kiewer, die ihre Häuser nicht verlassen haben, werden nicht allein gelassen.“

Bisher etwa 2200 Bewohner von Mariupol getötet

Im Südosten des Landes bedrängen russische Truppen weiter die seit Tagen belagerte Hafenstadt Mariupol mit rund 400 000 Einwohnern. Nach ukrainischen Angaben wurden dort bislang etwa 2200 Bewohner getötet.

In der westlich von Mariupol gelegenen Stadt Melitopol setzte Russland erstmals in einem eroberten Gebiet eine eigene Statthalterin ein. Die Lokalabgeordnete Halyna Daniltschenko rief die Bevölkerung auf, sich „an die neue Realität“ anzupassen. Der Bürgermeister von Melitopol, Iwan Fedorow, war zuvor nach Kiewer Angaben an einen unbekannten Ort verschleppt worden - ebenso wie der Bürgermeister der Kleinstadt Dniprorudne.

Nordwestlich von Melitopol, nahe der 600 000 Einwohner zählenden Industriestadt Krywyj Rih, gab es Berichte über eine größere Ansammlung russischer Truppen. Die Angaben waren unabhängig nicht überprüfbar.

Russland spricht von Fortschritten bei Gesprächen

Zu den vor zwei Wochen begonnenen ukrainisch-russischen Gesprächen sagte am Sonntag das russische Delegationsmitglied Leonid Sluzki im Staatsfernsehen: „Wenn wir die Positionen der beiden Delegationen heute mit denen zu Beginn vergleichen, werden wir deutliche Fortschritte feststellen.“ Beide Seiten könnten sich „schon in den nächsten Tagen“ auf eine gemeinsame Position verständigen und dies in entsprechenden Dokumenten unterzeichnen. Der ukrainische Präsidentenberater Mychajlo Podoljak sagte, er rechne ebenfalls „in wenigen Tagen mit konkreten Ergebnissen“.

Moskau fordert, dass Kiew die annektierte Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch anerkennt sowie die Separatistengebiete in der Ostukraine als unabhängige „Volksrepubliken“. Das lehnt die Ukraine ab. Kiew werde keine seiner Positionen aufgeben, sagte Podoljak. Ihm zufolge fordert die Ukraine ein Ende des Kriegs und den Abzug russischer Truppen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drohte Kollaborateuren Russlands in der Ukraine mit dem Tod. Wer sich von Angeboten der russischen Besatzer in Versuchung geführt sehe, unterschreibe damit sein eigenes Urteil, sagte er in einem Video.

Die US-Regierung will den ukrainischen Streitkräften bei den zuletzt zugesagten Waffenlieferungen vor allem Luftabwehrsysteme zukommen lassen. Das sei momentan „der Fokus“, sagte der Nationale Sicherheitsberater Jake Sullivan am Sonntag dem TV-Sender CNN. Kampfflugzeuge wollten die USA nicht schicken, um eine direkte Konfrontation mit Russland zu vermeiden. US-Präsident Joe Biden hatte erst am Samstag weitere 200 Millionen Dollar für Waffenlieferungen bewilligt.

Zehntausende bei Demonstrationen in Deutschland

In der besetzten Großstadt Cherson im Süden der Ukraine demonstrierten nach Berichten örtlicher Medien Tausende Einwohner gegen die russische Besatzung. Die Zeitung „Ukrajinska Prwada“ veröffentlichte am Sonntag Fotos und Videos, die zahlreiche Menschen mit ukrainischen Fahnen im Zentrum der Stadt zeigten. In Sprechchören forderten sie den Abzug der russischen Truppen. Die Menge rief „Nach Hause!“ und „Cherson ist ukrainisch“.

Auch in Russland kam es zu Antikriegsprotesten in 33 Städten, die von Polizisten nach kurzer Zeit aufgelöst wurden. Dabei wurden nach Angaben von Bürgerrechtlern landesweit mehr als 600 Menschen festgenommen. Bilder und Videos in sozialen Netzwerken zeigten, wie Menschen von Polizisten mit Schutzhelmen und schwerer Ausrüstung weggezerrt wurden. Der inhaftierte Kremlgegner Alexej Nawalny hatte dazu aufgerufen, gegen den Krieg auf die Straße zu gehen.

In Deutschland gingen am Sonntag erneut Zehntausende gegen den Krieg auf die Straße - in Berlin waren es nach Angaben der Veranstalter 60 000 Demonstranten, in Stuttgart 35 000, in Frankfurt 12 000, in Hamburg 10 000 und in Leipzig 8000. Zu den Demonstrationen hatte ein Bündnis aus Friedens-, Menschenrechts-, Umweltschutzorganisationen sowie Gewerkschaften und Kirchen aufgerufen. Sie fordern, dass Russlands Präsident Wladimir Putin sofort alle Angriffe einstellt, sich aus der Ukraine zurückzieht und die territoriale Integrität des Landes wiederherstellt.