Die meisten Ukraine-Flüchtlinge müssen fast alles hinter sich lassen – so ging es auch Anna Kukharuk. Auf Drängen ihres Mannes floh sie im Frühjahr nach Deutschland. Heute arbeitet sie als Integrationsmanagerin in Kehl. Foto: Symbolfoto: Brandt

Anna Kukharuk verstärkt seit Mai das Integrationsmanagement-Team der Stadt Kehl. Nur anderthalb Monate zuvor ist sie selbst mit ihrer Tochter geflüchtet – heute hilft sie anderen Flüchtlingen, sich in Deutschland zurechtzufinden.

Kehl - Als die russische Föderation am 24. Februar die Ukraine überfallen hat, lebte Anna Kukharuk mit ihrem Ehemann und ihrer damals siebenjährigen Tochter in einer Mietwohnung in Kiew. Noch am selben Abend brach sie mit ihrer Familie in die Nähe von Hostomel, einer Siedlung nahe der Stadt Butscha, auf. "Unterwegs sahen wir Fahrzeuge im Straßengraben, von Gewehrsalven durchlöchert", berichtet Anna Kukharuk. Auch Soldaten mit Panzerfahrzeugen begegneten ihnen unterwegs.

 

Für die Familie ein unheimlicher Moment: "Auf den ersten Blick konnten wir gar nicht erkennen, ob das ukrainische oder russische Streitkräfte waren", sagt sie. Wie sich herausstellte, waren es ukrainische Soldaten. Nahe Hostomel bezog die Familie ein kleines Haus, das dem Vater von Anna Kukharuk gehörte. "Wir hörten um uns herum die Bomben fallen und Schüsse aus Maschinengewehren", berichtet sie. Dann suchte die Familie Schutz im Keller des Hauses. "Manchmal harrten wir dort bis zu drei Stunden lang aus." Eines Tages erhielt die Familie unerwarteten Besuch: Ein Gefechtspanzer rollte auf das Grundstück. "Ein ukrainischer Soldat riet uns, abzuhauen, weil es dort bald zu heiß für uns würde", erinnert sie sich. Aus Angst, der Krieg könnte sie einholen, fuhr Anna Kukharuk mit ihrer Tochter und ihrem Ehemann nach Riwne, einer Stadt im Westen der Ukraine, nahe der belarussischen Grenze.

Ihr Ehemann drängt sie, das Land zu verlassen

In Riwne lebten ihre Eltern. Doch die Unsicherheit und die Angst waren mit ihnen nach Riwne gereist. "Mein Mann sagte schließlich zu mir: ›Anna, bitte nimm’ das Kind und geh nach Deutschland!‹", berichtet sie. Deutschland war für sie die naheliegende Option, denn Kukharuk hatte zwei Jahre lang in Rostock studiert und einen Masterabschluss in Germanistik und Amerikanistik. Folglich war bei ihrer Flucht nach Deutschland die Universitätsstadt an der Nordseeküste auch die erste Anlaufstelle. Die Arbeits- und Wohnungssuche stellten sich für die plötzlich alleinerziehende Mutter allerdings als kompliziert heraus, trotz sehr guter Deutschkenntnisse. "Stattdessen habe ich ehrenamtlich für andere Kriegsgeflüchtete aus der Ukraine übersetzt", sagt sie.

Ihr Weg führte sie schließlich nach Kehl. Bei einem Treffcafé traf sie auf ihre späteren Kollegen aus dem Integrationsmanagement. "Ich habe ihnen gesagt, dass ich Arbeit suche und den Wunsch habe, den Ukrainerinnen und Ukrainern in Kehl zu helfen", sagt sie. Danach ging es schnell. Am 16. Mai trat sie ihre Stelle als Integrationsmanagerin der Stadt an. "Ich habe dort ein großherziges und tolles Team vorgefunden und werde sehr gut unterstützt", resümiert sie. Und auch Christine Lux vom städtischen Bereich Sozialwesen ist glücklich, Anna Kukharuk im Integrationsmanagement-Team zu wissen: "Sie kennt die ukrainische Sprache und Kultur; sie ist eine große Bereicherung für uns."

Inzwischen konnte Anna Kukharuk auch ihre Mutter und ihre Schwester zu sich in die Rheinstadt holen. Für ihren Mann ist dies nicht möglich. Er arbeitet derzeit als Fahrer für Hilfstransporte und bringt Konserven, haltbare Nahrungsmittel, Schlafsäcke, Isomatten oder Windeln in die Ukraine. "Gott sei Dank ist er nicht zum Wehrdienst eingezogen worden", sagt Anna Kukharuk. "Ich drücke die Daumen, dass es so bleibt." Durch ihre Arbeit als Integrationsmanagerin kennt sie auch ukrainische Frauen, deren Söhne als Soldaten in ihrem Heimatland gefallen sind.

Panik macht sich breit, wenn Luftalarm ertönt

Im Juli ist Anna Kukharuk erstmals seit ihrer Flucht nach Deutschland wieder für sieben Tage nach Kiew zurückgekehrt, gemeinsam mit ihrer mittlerweile achtjährigen Tochter, die ihren Vater seit fünf Monaten nicht mehr gesehen hatte. Soldaten auf den Straßen, Benzinknappheit, weniger Lebensmittel in den Regalen und eine steigende Teuerungsrate – die Situation in der ukrainischen Hauptstadt sei weiterhin angespannt, berichtet Kukharuk. "Das Traurige ist, dass die Menschen damit begonnen haben, sich an den Kriegszustand zu gewöhnen." Dennoch greife nach wie vor Panik um sich, sobald der Schutzalarm ausgelöst wird. Sie wünsche sich, dass sich die Menschen im Ausland nicht an den Kriegszustand in der Ukraine gewöhnen und weiterhin Hilfen in das von Russland angegriffene Land schicken, so Kukharuk.

Hintergrund

Im Frühjahr 2021 ist der 2013/14 begonnene Konflikt um die Ukraine wieder aufgeflammt. Bis Februar 2022 hatte Russland sukzessive rund 150 000 Soldaten und militärisches Gerät an den Grenzen rund um die Ukraine zusammengezogen – am 24. Februar erfolgte der Angriff.