Museumsleiter Michael Hütt zeigt bei der neuen Sonderausstellung das Prinzip der Info-Banner aus Tüchern, die zurück geschoben werden können und interessante Objekte, wie hier die Schwenninger Rathaus-Uhr von 1860, hervorbringen. Foto: Kratt

Wie haben unsere Ahnen im 18. Jahrhundert Zeit wirklich empfunden? In der neuen Sonderausstellung "Vor dem Uhrknall – Zeit und Leben im Dorf Schwenningen" im Uhrenindustriemuseum sollen die Zeitstrukturen eines württembergischen Dorfs nähergebracht und die Heimatgeschichte neu erzählt werden.

VS-Schwenningen - Es soll eine "glokale" Ausstellung werden, erläutert Museumsleiter Michael Hütt sofort die Intention der neuen Sonderschau im Uhrenindustriemuseum, die sowohl im Rahmen des Stadtjubiläums als auch im Hinblick auf das anvisierte Bürk-Areal rund anderthalb Jahre geplant wurde und ab Samstag auf 150 Quadratmetern zu sehen ist. Glokal, das bedeute, dass der facettenreiche und durchaus vielschichtige Inhalt nicht nur in Bezug auf Schwenningen, sondern auch auf ganz Deutschland beziehungsweise Europa gesehen werden müsse, betont Hütt.

Geschichte von 1633 bis 1850

Es ist die Teilgeschichte Schwenningens, die 1633 beim einfachen Bauerndorf beginnt und in 1850 mit dem Aufschwung der Uhrenindustrie in der Ausstellung endet und einmal ganz anders als gewohnt erzählt werden soll: Das Museumsteam hatte bei der Konzeption stets das Prinzip der Zeit – im Hinblick auf den Standort des Uhrenindustriemuseums beziehungsweise der ehemaligen Württembergischen Uhrenfabrik – im Blick. "Durch die Zeitstrukturen ergibt sich ein ganz anderer Blick auf die Ausstellung", gibt der Museumsleiter einen Vorgeschmack. Dabei würden sich sehr spannende und teils sehr widersprüchliche Aspekte – stets im Vergleich mit der heutigen Zeit – ergeben.

Zahlreiche Bauernmöbel aus Depot geholt

Da wird zunächst das bäuerliche Leben erklärt und mit zahlreichen Objekten aus dem Agrarbereich veranschaulicht – stets mit dem Hinweis, dass der Zyklus der Jahreszeiten den bäuerlichen Alltag bestimmt hat. Die Bauernmöbel seien zum größten Teil seit mehr als 50 Jahren nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich gewesen, nachdem sie zunächst Leihgaben für das Mühlhauser Bauernmuseum waren und zuletzt im Depot geschlummert hatten. "Das ist im Grunde unser neues Heimatmuseum", sagt Michael Hütt im Hinblick auf das Bürk-Areal, das mitunter Heimat- mit Uhrenindustriemuseum unter neuen Gesichtspunkten miteinander verknüpfen soll. "Es ist wichtig zu zeigen, dass es erhalten bleibt und die bäuerliche Vergangenheit nicht zurück ins Depot wandert." Rund um das ins Licht gesetzte Möbel-Arrangement werden Themen als sogenannte Disruptive genauer erläutert, die das bäuerliche Leben im 19. Jahrhundert beeinflusst und unterbrochen haben: Brände, Hungersnöte und Krankheiten, Auswanderung sowie Krieg und Verwüstung. Mit Parallelen zur aktuellen Impfpflicht, ja sogar zum Ukraine-Krieg, werden die Besucher immer wieder in die Gegenwart zurückgeholt und – per Text auf den Informationsbannern – vor Entscheidungsfragen mit aktuellem Bezug gestellt.

Thema Zeit ist roter Faden

Das Thema Zeit zieht sich als roter Faden durch die Ausstellung: Da ist desweiteren der Komplex Lebenszeiten, der – am Beispiel Schwenningen – deutlich macht, dass die Lebenserwartungen im 19. Jahrhundert noch viel niedriger waren als heute. Da ist aber auch der Bereich Familienzeiten, der durch das Thema Hochzeit veranschaulicht, dass es früher komplett andere Lebensweisen und Dauerhaftigkeiten gab als heute. Aufwendig hat eine Landeshistorikerin aus Stuttgart Stammbäume zweier Schwenninger Familien rekonstruiert, die mit Hochzeitsuhr und Hochzeitsschrank ausgestellt sind.

Der Bereich Dauer und Wandel zeigt sowohl (verwaltungs-)politische als auch wirtschaftliche Aspekte aus dem langsam aufstrebenden Bauerndorf: unter anderem die Bauernherrschaft und das Aufbegehren dagegen sowie die allmähliche Aufbruchstimmung durch Handwerk und Uhrmachertum, das 1765 die ersten beiden Uhrmacher in Schwenningen hervorbrachte.

Nach dem Themenbereich Frühindustrialisierung rund um Schichtarbeit in der Saline bis hin zur ersten Wächter-Kontrolluhr schließt die Ausstellung dann mit dem "Uhrknall", einer geschickten Inszenierung der Vielfalt der Uhrenindustrie, ab.

"Erprobung" für das geplante Bürk-Areal

Auch als eine Art "Erprobung" nennt Michael Hütt die Sonderausstellung, die den geplanten Übergang vom Heimat- und Uhrenmuseum in das Bürk-Areal immer wieder aufnimmt und besonders inszeniert: Unter anderem sind die Info-Texte auf durchsichtigen Stoffbannern gedruckt, die vor den Ausstellungsobjekten hängen. Durch sie kann man durchsehen oder sie auch zur Seite schieben. "Sie stehen symbolisch für den Umzug – mit ihnen kann man Gegenstände verpacken und wieder auspacken", erklärt der Museumsleiter. Für ihn ist die Zusammenführung beider Museen eine "riesige Chance, um die Heimat – und Uhrengeschichte anders zu sehen und ineinander zu verschränken".

Info: Die Ausstellung und ein Blogbeitrag

Die Ausstellung "Vor dem Uhrknall – Zeit und Leben im Dorf Schwenningen" wird am Samstag, 9. April, 18 Uhr, feierlich eröffnet. Aus Platzgründen findet die Eröffnung in der Mensa der Gartenschule statt. Sie ist bis 8. Januar 2023 im Uhrenindustriemuseum immer dienstags bis sonntags, 11 bis 17 Uhr, zu sehen.

Kurz vor Eröffnung erscheint im Blog der städtischen Museen ein Beitrag zu unehelichen Geburten von 1790 bis 1849, die zu dieser Zeit rasant anstieg. Wie lässt sich das erklären? Historikerin Julia Medovyi begibt sich auf Spurensuche und verknüpft ihre spannende Erkenntnisse auch mit dem ein oder anderen Ausstellungsobjekt. Den vollständigen Blogbeitrag gibt es im Internet unter www.stadthochzwei.de.