Foto: 20th Century/Verleih

Für die meisten Amerikaner sind Opossums nervige Schädlinge - schlimmer noch als Tauben und Ratten. Zoologen hingegen lieben die quirrligen Nager.

Stuttgart - Für die meisten Amerikaner sind Opossums nervige Schädlinge - schlimmer noch als Tauben und Ratten. Zoologen hingegen lieben die quirrligen Nager. Denn die kleinen Überlebenskünstler können viel mehr, als Mülltonnen zu durchwühlen und Kabel durchzubeißen.

Crash und Eddie sind zwei tollkühne Gesellen. Im Trickfilm "Ice Age" legen sich die Opossum-Brüder mit Mammuts und Säbelzahntigern an oder lassen sich mit Hilfe biegsamer Baumstämme durch die Luft katapultieren. Von 1. Juli an sind die hyperaktiven Nager wieder im Kino zu sehen.

[image]Auch jenseits der großen Leinwand sind Opossums streit- und abenteuerlustig. Sie gehören zur Familie der Beutelratten und sind nicht nur die bekanntesten Vertreter ihrer Gattung, sondern mit einer Körperlänge von 30 bis 50 Zentimeter (der ebenso lange, dünne, nackte Schwanz nicht mitgerechnet) auch die stattlichsten. Doch selbst bei dieser Größe ist es mutig, sich fauchend und kreischend einem Kojoten, Puma oder einem Alligator entgegenzustellen. "Wenn Gefahr droht, versucht es ein Opossum zunächst mit dieser Strategie", erklärt Zoologe Udo Gansloßer von der Universität Greifswald. Zeigt das keine Wirkung, stellt es sich tot. Wie ein Kind, das beim Cowboy-und-Indianer-Spiel einen tödlichen Treffer simuliert, fällt es zu Boden - die Augen geschlossen, die Zunge rausgestreckt.

Gleichzeitig scheiden die Analdrüsen ein übelriechendes Sekret aus. "Geruchsempfindliche Angreifer lassen sich davon meist abschrecken", sagt der Zoologe. Erwischt etwa ein Hund ein Opossum, lässt er in der Regel von ihm ab, ohne einen einzigen Bissen von der Beute zu nehmen. Kein anderes Säugetier täuscht seinen Tod so überzeugend vor. Im amerikanischen Sprachgebrauch bedeutet "playing possum", Opossum spielen, deshalb totstellen.

Viel Zeit, ihr schauspielerisches Geschick unter Beweis zu stellen, haben die in Nord- und Südamerika heimischen Nagetiere allerdings nicht. Bis zu 18 Stunden am Tag hängen die nachtaktiven Einzelgänger im Baum und schlafen - ein rekordverdächtiger Wert. Zum Vergleich: Ein Faultier hält im Durchschnitt knapp zehn Stunden Nachtruhe. Wacht ein Opossum auf, steht erst mal Futtersuche auf dem Programm. Langsam und sorgfältig wie ein Igel sucht es mit der Schnauze den Boden nach allem ab, was essbar erscheint. Mit Insekten, Würmern und Mäusen - ob tot oder lebendig - sind die Nager ebenso zufrieden wie mit gammligen Marmeladebrötchen aus der Mülltonne. "Besonders wild sind sie auf Ölsardinen", weiß Gansloßer. Der strenge Fischgeruch ziehe sie magisch an.

Da die Tiere gegen Schadstoffe ziemlich resistent sind, bleibt die Wahllosigkeit ohne Folgen. Die Beutelratten vertragen fast alles. "Nur bei fasrigem Blattgemüse wie Salat haben sie Probleme", sagt der Tierexperte. Ist wahrscheinlich zu gesund. Den Angriff einer Giftschlange dagegen steckt das Opossum ohne weiteres weg.

Auch bei der Auswahl ihres Lebensraums sind Opossums nicht wählerisch. Finden sie in den Wäldern zwischen Argentinien und Kanada nicht genug zu fressen, ziehen sie in einen Stadtpark oder in ein Wohngebiet um. Oder wandern weiter nach Norden. "Manche Tiere dringen in Gegenden vor, in denen Teile ihres Schwanzes und sogar der Ohren abfrieren, aber sie bleiben", sagt Gansloßer. Für den Zoologen sind Opossums deshalb wahre Überlebenskünstler. Andere halten die Tiere einfach für dumm. Das Gehirn der Beutelratte wiegt tatsächlich nur ein Fünftel von dem einer vergleichbar großen Hauskatze. Doch auch ohne einen üppigen Vorrat an grauen Zellen kommen Opossums gut durchs Leben.

1920 galten Opossums in Nordamerika nahezu als ausgestorben. Ihr Pelz war bei den Damen sehr beliebt, ihr Fleisch galt als Delikatesse. US-Präsident Franklin D. Roosevelt (1882-1942) soll ein großer Freund von Opossum-Braten gewesen sein. Doch die Tiere ließen sich nicht unterkriegen. Der Bestand erholte sich und breitet sich seither immer weiter aus. Heute leben pro Quadratkilometer rund 100 Tiere. Und das, obwohl die Nager in den Südstaaten der USA teilweise noch immer als Nationalgericht gelten und nach wie vor Millionen Opossum-Pelze in den Handel kommen.

Eine neue Gefahr bedroht das Opossum ausgerechnet wegen seiner vielgerühmten Zähigkeit. Immer mehr Wissenschaftler nutzen die Beutelratte als Labortier. Vor zwei Jahren hat ein internationales Forscherteam das Opossum-Genom entschlüsselt. Eines Tages könnte dies dabei helfen, ein Mittel gegen Hautkrebs oder Cholesterinüberschuss zu entwickeln. Denn beim Opossum verändern sich gerade die Gene am schnellsten, die mit dem Immunsystem, der Ernährungsumstellung und der Fortpflanzung zu tun haben.

Dem ausgeprägten Vermehrungstrieb dürfte es auch zu verdanken sein, dass das Opossum trotz des Interesses an dem widerstandsfähigen, angeblich schmackhaften Pelztier nicht auf der Roten Liste der bedrohten Tierarten gelandet ist. In freier Wildbahn überlebt es maximal drei Jahre. In dieser Zeit bringt ein gesundes Weibchen bis zu 150 Jungtiere zur Welt. Die Neugeborenen sind zunächst kaum als Säugetiere zu erkennen. Mit einem Zentimeter Körperlänge und dem Gewicht von einem sechstel Gramm erinnern sie eher an Würmer. Ein kompletter Wurf mit 20 Jungen hat bequem auf einem kleinen Löffel Platz. Allerdings bevorzugen die Winzlinge die Beuteltasche ihrer Mutter. Dorthin klettern sie sofort nach der Geburt aus eigener Kraft. Wer es nicht schafft, stirbt.

Nach zwei bis drei Monaten wird es doch etwas eng im Beutel. Dann kehren die Babys zurück an die frische Luft. Es dauert einen weiteren Monat, bis die Jungen allein klarkommen. Ist dieser Zeitpunkt gekommen, zeigt die Mutter wahre Größe. "Sie überlässt den Kleinen das vertraute Revier und sucht sich einen neuen Lebensraum", sagt Udo Gansloßer. So hat der Nachwuchs die größten Überlebenschancen. Egal, ob er sich gegen Mammuts, Pumas oder Wissenschaftler behaupten muss.