Aufgrund der Coronapandemie droht die Situation, dass auf den überlasteten Intensivstationen nicht mehr alle Patienten aufgenommen werden können. (Symbolfoto) Foto: dpa/Marijan Murat

In der Coronapandemie droht die Situation, dass Intensivstationen nicht mehr alle Patienten aufnehmen können - und eine Auswahl treffen müssen. Neun Menschen mit Behinderungen befürchten, im Zweifel aufgegeben zu werden. Sie wollen den Gesetzgeber zu Vorgaben zwingen.

Karlsruhe - Die Vorstellung, dass Ärzte auf überlasteten Intensivstationen Patienten aufgeben müssen, ist für viele ein Horrorszenario. Muss der Staat in der Corona-Pandemie für die sogenannte Triage Auswahlkriterien vorgeben? Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen befürchten, ohne solche Vorgaben von Ärzten aufgegeben zu werden, und haben Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe eingereicht (Az. 1 BvR 1541/20). Am Dienstag (9.30 Uhr) veröffentlicht das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung.

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb „trier“, das „sortieren“ oder „aussuchen“ bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht - zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt.

„Klinisch-ethische Empfehlungen“ wurden erarbeitet

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) hat dafür mit anderen Fachgesellschaften „Klinisch-ethische Empfehlungen“ erarbeitet. Die Klägerinnen und Kläger sehen die dort genannten Kriterien mit Sorge, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten eine Rolle spielen. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben, und fordern eine gesetzliche Regelung. Ein solches Gesetz hätte auch den Vorteil, dass es gerichtlich überprüft werden könnte.

Die Verfassungsbeschwerde ist schon seit Mitte 2020 in Karlsruhe anhängig. Damit verbunden war auch ein Eilantrag - den die Richterinnen und Richter des zuständigen Ersten Senats unter Gerichtspräsident Stephan Harbarth allerdings abgewiesen hatten. Sie teilten damals mit, das Verfahren werfe schwierige Fragen auf, die nicht auf die Schnelle beantwortet werden könnten. Im Sommer 2020 sahen sie auch keinen Grund für große Eile: Die Verbreitung der Krankheit und die Auslastung der Intensivstationen lasse es im Moment nicht wahrscheinlich erscheinen, dass eine Triage-Situation eintrete.

Experten warnen wegen Omikron vor Entwicklung

Inzwischen stellt sich die Lage anders dar. Die vierte Corona-Welle hat zuletzt vielerorts Krankenhäuser an die Belastungsgrenze gebracht, Patienten mussten in andere Regionen verlegt werden. Und Experten warnen vor einer noch viel dramatischeren Entwicklung durch die Ausbreitung der neuen Virusvariante Omikron.

Im Grundgesetz steht: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ Zur Eilentscheidung hatte der Senat damals mitgeteilt, dass sich hier insbesondere die Frage stelle, „ob und wann gesetzgeberisches Handeln in Erfüllung einer Schutzpflicht des Staates gegenüber behinderten Menschen verfassungsrechtlich geboten ist“. Außerdem wollen die Richterinnen und Richter den „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei Regelungen medizinischer Priorisierungsentscheidungen“ ausloten.

Auch Divi fordert gesetzliche Grundlage

Die Divi und Mitautoren ihrer Leitlinien hatten nach Bekanntwerden der Verfassungsklage versichert, niemand werde aufgrund von Alter, Grunderkrankung oder Behinderung von der Versorgung ausgeschlossen. Die Kriterien würden nur relevant, wenn ihretwegen die Wahrscheinlichkeit sinke, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Bei dieser Einschätzung würden alle gleich behandelt. Gleichzeitig forderte auch die Divi eine gesetzliche Grundlage, um Medizinern Rechtssicherheit zu geben.

Die Deutsche Stiftung Patientenschutz sieht ebenfalls den Bundestag in der Pflicht, Regelungen zur Triage festzulegen. „Die Bundestagsabgeordneten sind die einzigen, die demokratisch zu einer solchen Entscheidung legitimiert sind“, sagte Vorstand Eugen Brysch der Deutschen Presse-Agentur. Vor allem gehe es um die Frage, ob jemand vom Beatmungsgerät genommen wird. Die Regeln müssten in allen Krankenhäusern gleich sein, forderte Brysch.

Die Diskussion und die Entscheidung seien sicher keine einfachen, räumte Brysch ein. „Aber man wird nicht Bundestagsabgeordneter, um nur Schönwetterpolitik zu machen“, sagte er. „Es geht um die Verteilung von Lebenschancen.“ Aus Karlsruhe erhoffte er sich eine klare Entscheidung, ob das Parlament Regeln beschließen muss - und am besten auch, anhand welcher Kriterien. Aus Dringlichkeit und Erfolgschancen ergibt sich oft ein Konflikt, wie der Patientenschützer deutlich machte: „Bei jemandem, der dringend eine Therapie braucht, sind die Erfolgsaussichten meist nicht am größten.“