Jean-Baptiste Joly. Foto: Peter Petsch

Seit 25 Jahren leitet er die Akademie Schloss Solitude. Am Montag sprach Jean-Baptiste Joly in unserer Gesprächsreiche Über Kunst über ihre Entwicklungen, Strategien und Perspektiven der Akademie.

Seit 25 Jahren leitet er die Akademie Schloss Solitude. Am Montag sprach Jean-Baptiste Joly in unserer Gesprächsreiche Über Kunst über ihre Entwicklungen, Strategien und Perspektiven der Akademie.

Stuttgart - Natürlich muss eine solche Diskussion, moderiert von Nikolai B. Forstbauer, dem Leiter des Kulturressorts der Stuttgarter Nachrichten, auch zu einer Diskussion über den Standort Stuttgart werden. Es geht um die Bedingungen, unter denen Kunst in diesem Umfeld stattfinden kann, um die Strategien, mit denen die Akademie Schloss Solitude arbeitet. Mehrmals an diesem Abend betont Joly deshalb deren besondere Funktion: „Wir sind kein Museum“, sagt er, „wir stellen nicht aus, wir suchen keine Talente.“

Stattdessen bietet die Akademie Schloss Solitude Stipendiaten, die im Abstand von zwei Jahren von einer Jury bestimmt werden, die Möglichkeit, im Schloss oben über Stuttgart zu wohnen und zu arbeiten: „Wir sind eine Art schwäbische Villa Massimo“, sagt Joly, „nur mitten drin.“ Mitten drin, das heißt zwar nicht mitten in der Stadt, aber mitten in Europa und auch: inmitten einer Region, in der vor allen Dingen das Wissen der Ingenieure dominiert. Sich hier als eine Institution der Kunstförderung zu behaupten, das bedarf, Jean-Baptiste Joly gibt das gerne zu, der List.

Zu Stuttgart pflegt Joly ein ungemein positives Verhältnis, in dem stets eine Haltung freundlicher Subversion mitklingt. Die Stadt und ihre Umgebung, sagt er, seien der Nährboden, auf dem seine Institution erst gedeihen konnte: „Ich glaube, das wäre in keiner anderen Stadt möglich gewesen.“ Und er fügt, listig wiederum, hinzu: „Wir begegnen hier einer Mischung aus großer Offenheit und Gleichgültigkeit. Das schafft einen großen Spielraum, in dem wir uns bewegen können.“

Dass die Akademie Schloss Solitude gerade an diesem Ort gedeihen konnte, mag an den Spannungsverhältnissen liegen, die ihn bestimmen. Ein„anderes Wissen“ spielt im aktuellen Kunstdiskurs eine große Rolle. Nikolai B. Forstbauer bleibt dem Schlagwort gegenüber skeptisch, er fragt, ob es hier lediglich um Legitimation gehe, um die Duldung der Kunst.

Vertreter der exakten Wissenschaften und Wirtschaftswissenschaften als Stipendiaten

Aber Joly ist nicht verlegen, dieses Wissen zu benennen und zu verteidigen: „Künstler wollen die Welt nicht verstehen, sie wollen sie bewohnbar machen. Anderes Wissen weist auf etwas hin, das man nicht vergessen sollte: dass unsere Zukunft nicht nur in den so genannten Mint-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, Anmerkung der Red.) zu finden ist.“ Dass beide, Kunst und Wissenschaft, voneinander profitieren können, ist für ihn sicher: die Kunst, sagt er, beneide die Wissenschaft um ihre Autorität, aber die Wissenschaft beneide die Kunst um ihre öffentliche Strategie, um ihr „public Understandig“. In Frage stellt Joly bemerkenswerterweise nicht nur das auf sich selbst bezogene Denken der Ingenieure, sondern auch das der Künstler: „Die Künstler“, sagt er, „machen sich das Leben zu leicht, sie verstehen sich zu schnell. Das halte ich für eine große Gefahr“.

Diese Gefahr scheint Nikolai B. Forstbauer im Blick zu haben, als er den Begriff einer spezifischen Solitude-Kunst hinterfragt, der das erste Jahrzehnt der Akademie mitprägte: „Unterstellt wurde damit eine gewisse Gleichförmigkeit in der künstlerischen Strategie“, sagt er. Den Grund für diese Tendenz sieht Joly in der Prägung der damaligen Künstlergeneration, die bestimmt wurde von den Schülern der großen Meister der Documenta 5. Die Stipendiaten jener Zeit stammten aus Deutschland, Frankreich, Österreich und der Schweiz. Eine Zäsur, sagt er, fand bereits mit der Künstlergeneration statt, die 1996 an die Akademie Schloss Solitude kam: „Wir wurden international.“ Zusätzlich wurde die Akademie von einem Ort der Kunstförderung zu einer Einrichtung, die auch Reisestipendien vergibt – Bewegung hielt Einzug. „Ich dachte plötzlich: Wir sind ein bisschen schnell gefahren“, erinnert er sich, „sehr schnell. Aber jetzt fliegen wir!“

2002 startete die Akademie ihr Programm „Art, Science and Business“. Seither finden sich auch Vertreter der exakten Wissenschaften und der Wirtschaftswissenschaften unter den Stipendiaten – die Akademie holte sich das Spannungsfeld, in dem sie sich behaupten muss, gewissermaßen ins Haus und versuchte, es für sich nutzbar zu machen. Ein Schritt, der natürlich auch mit Enttäuschungen verbunden war: „Es war ein Irrtum“, sagt Joly, „zu denken, dass die Wirtschaft so etwas verstehen würde, dass es zu einem kontinuierlichen Austausch zwischen Wirtschaft und Kultur kommen würde. Dem ist leider nicht so.“ Die Erkenntnis stellte sich ein: „Die großen Industrieunternehmen brauchen uns nicht.“ Und aus ihr folgte das Umdenken: „Auch die Ebene der Wirtschaft besteht aus vielen Teilen“. Folglich setzte Solitude fortan nicht auf Unternehmen, sondern auf Einzelpersonen: Manager oder Wissenschaftler, die den Aufenthalt in der Akademie als eine Auszeit nutzen möchten.

Hinter all dem, erklärt Joly, steht die Idee eines idealen Netzwerkes, und sie ist die List, die Strategie, die die Oppositionen unterlaufen soll: „Wir wollen keinen neuen Wettbewerb oder das Kunstwerk ins kapitalistische System überführen. Wir stehen auf der Seite des gegenseitigen Verständnisses.“ Joly glaubt, dass in Kunst und in der Wissenschaft jeweils Potenziale nicht wahrgenommen werden, die der anderen Seite von großem Nutzen sein könnten, und dass die Akademie Schloss Solitude ein Ort ist, an dem beide zusammenfinden können. „Ehe der Neoliberalismus über uns herfällt.“ Ein Observatorium, sagt er, sei die Akademie, das einen klareren Blick ermögliche – und in Stuttgart befinde sie sich am richtigen Ort, allein schon, weil man sich hier verstehe, unter Kollegen: „Das ist ein Reichtum, und es lohnt sich, sich dafür einzusetzen.“