„La Muralla Roja“: 1973 in Calpe fertiggestellte Wohnanlage des berühmten spanischen Architekten Ricardo Bofill. Foto: IMAGO/Depositphotos/Copyright: xsolkafax

Die Netflix-Serie „Squid Game“ ist weltweit ein Erfolg. Nun pilgern Fans in Massen zum Apartmenthaus von Stararchitekt Ricardo Bofill im spanischen Calpe, denn es erinnert an die Kulisse der Serie. Noch mehr TV-Serien sorgen für Andrang vor großer Architektur.

Vor etwas mehr als drei Jahren ist Ricardo Bofill gestorben, einer der größten und prägendsten Architekten der Postmoderne. Der Spanier war der Poet unter den Baumeistern, er übersetzte wie kaum jemand Träume, Sehnsüchte, aber auch die menschliche Lust am Spiel und an der Abstraktion in ikonische Architektur.

 

Zu den wichtigsten Bauwerken des Architekten des gebürtigen Katalanen gehören das Wohnprojekt „Walden-7“ in seiner Heimatstadt Barcelona, „La Fábrica“ in Sant Just Desvern sowie „La Muralla Roja“ in Calpe an der Costa Blanca.

Ambitionierte Architektur als Pop-Phänomen

Als Ricardo Bofill 1968 die Wohnanlage „La Muralla Roja“ (dt. Die rote Wand) zeichnete, konnte er natürlich nicht ahnen, dass er ein halbes Jahrhundert später zum Stararchitekten auf Instagram, TikTok und anderen sozialen Medien avancieren würde. Ambitionierte Architektur kann populär sein, doch tendenziell interessieren sich für herausragende Gebäude eher bildungsbürgerliche Kreise, Intellektuelle, dezidiert Architekten.

Und dennoch lockt der 1973 fertiggestellte, von der namensgebenden roten Mauer eingefasste, farbenprächtige Apartmentkomplex alljährlich zahlreiche Influencerinnen an, meist junge Leute, Architekturlaien. Was ja schon deswegen merkwürdig ist, da der labyrinthische Bau mit Meerblick, der ein wenig an M.C. Eschers unmögliche Treppenbilder erinnert, als eine kritisch-ironische Replik auf die Geschmacklosigkeit des Massentourismus in Benidorm und anderswo an Spaniens Mittelmeerküste verstanden werden sollte.

Szenenbild aus „Squid Game“. Die Treppen sind inspiriert von Ricardo Bofills berühmter Apartmentanlage in Calpe, Spanien. Foto: www.imago-images.de/IMAGO

Der Grund für Ricardo Bofills unbeabsichtigte „Instagramability“ ist der Netflix-Straßenfeger „Squid Game“. Die südkoreanische Serie erzählt die Geschichte eines tödlichen Wettbewerbs, in dem verzweifelte, verschuldete Teilnehmer um ein hohes Preisgeld kämpfen. Bei diesem zynischen Spiel geht es um Leben und Tod.

Die zweite Staffel der Serie wurde an Weihnachten 2024 auf Netflix hinzugefügt. Das Setting in dieser Überlebensshow wiederum erinnert frappierend an Ricardo Bofills rotes Apartmentensemble. Zwar wurde nicht an Originalschauplätzen gedreht, doch die Szenenbildner im Team des Regisseurs Hwang Dong-hyuk haben sich bei ihrer surrealen Fiktion augenscheinlich von „La Muralla Roja“ stark inspirieren lassen.

Filmproduzenten von außergewöhnlicher Architektur begeistert

Seitdem das Gebäude durch die Netflix-Ausstrahlung weltweit Aufmerksamkeit erlangt hat, pilgern nicht nur Touristen, sondern auch Filmproduzenten an die spanische Mittelmeerküste. Über den Bofill-Hype berichtete kürzlich die deutschsprachige Zeitung „Costa Nachrichten“.

Zehn amerikanische Produktionsfirmen, darunter Branchenriesen wie Amazon und Paramount, hätten bereits das Potenzial dieser einzigartigen Location erkundet. „Sie waren von der außergewöhnlichen Architektur begeistert“, wird Marco Bittner, Stadtrat für internationalen Tourismus in Calpe, in dem Beitrag zitiert.

Die sozialen Medien verwandelten „La Muralla Roja“ dank „Squid Game“ in einen viralen Hotspot, vor allem jetzt wieder, nach dem Start der zweiten Staffel Ende Dezember. Insbesondere Besucher aus Asien seien von der Ästhetik fasziniert, erklärte Bittner. „Sie reisen gezielt an die Marina Alta und nach Calpe, um Content für ihre Kanäle zu produzieren.“

Emily in Paris als Feindbild der Anwohner

Die Bewohner hätten sich mit dem Medientourismus dank Netflix arrangiert – wenn auch nicht alle freiwillig, wie es weiter hieß. Netflix als Fluch und Segen für die lokale Bevölkerung – das Phänomen ist nicht neu. Dabei spielt meist die Architektur eine Hauptrolle. Wohin reisen „Emily in Paris“-Fans, um etwas von der Aura ihrer Netflix-Heldin zu spüren? Genau: nach Paris, und zwar ins 5. Arrondissement zum Place de l’Estrapade, in der Nähe des Jardin du Luxembourg.

Die Kulisse bildet die für die Pariser Innenstadt so phänotypische Wohnhausarchitektur aus dem 19. Jahrhundert. Das perfekte Klischee. Mittlerweile finden sich in der Ecke schon Anti-Emily-Graffitis von wütenden Bewohnern wegen der Netflix-Fanscharen aus aller Welt.

Was für „Squid Game“-Fans Bofills Treppengebäude ist, bedeutet für die Fantasy-Serie „Game of Thrones“ seit ihrem Streamingstart im Jahr 2011 Kroatien, genauer: neben anderen Drehorten die kroatischen Küstenstädte Dubrovnik, Trogir und Split. Die Hafenstadt Split kam in der vierten Staffel als Drehstandort hinzu.

Und da war und ist es vor allem der mitten im Stadtzentrum gelegene antike Diokletian-Palast mit seiner sehr gut erhaltenen Anlage, die bis heute Massen von „Game-of-Thrones“-Fans aus aller Welt anzieht. Die Souvenirshops bieten entsprechende Devotionalien an: Schwerter, Dracheneier, Nippes, sogar Reizwäsche und vieles mehr, und das zu aberwitzigen Preisen.

Overtourism als Stressfaktor für die Einheimischen

Für die Bewohner wird dieser Umstand – falls man nicht direkt vom Tourismus profitiert – zum Fluch: Vor allem in den Sommermonaten überfluten täglich Tausende Fans der Serie die engen Gassen, die in Stoßzeiten auch noch gemeinsam mit den Kreuzfahrttagestouristen die alten Treppen und Durchgänge des eigentlich wunderschönen Palastes in eine schwitzende Sardinenbüchse verwandeln. Stichwort: Overtourism – vor lauter Urlaubern und Serienfans sieht man die großartige Architektur oft nicht mehr. Und die Einheimischen meiden ihre eigene Innenstadt.

Warnhinweis wegen Überfüllung

Nicht nur das: Mittlerweile warnen britische und US-amerikanische Medien potenzielle Besucher vor den überfüllten Städten an der Adria. So gab im vergangenen Jahr das renommierte Wall Street Journal aus New York seinen reisenden Leserinnen und Lesern mit auf den Weg: Meiden Sie Dubrovnik in der Hauptsaison, denn dann ist die Stadt ein unerträglicher Ameisenhaufen!

Bilder zur Architektur und den Serien in der Bildergalerie.