Für die Kunstturner ist es noch ein langer Weg, bis man sich wieder in Ligawettkämpfen messen kann.Foto: Schleeh Foto: Schwarzwälder Bote

Kunstturnen: Auswirkungen und Nachwirkungen: Athleten müssen sich wieder angstfrei an schwierige Elemente herantasten

Sportarten wie Kunstturnen bekommen die Auswirkungen durch den seit Monaten andauernden Lockdown besonders stark zu spüren. Turner, die nicht die Geräte wie Reck, Barren oder Ringe in ihre Übungseinheiten einbeziehen können, müssen nahezu bei Null wieder anfangen. Zur Situation äußersten sich Klaus Seifried und Wolfgang Staiger, der Trainer der WKG Villingendorf-Rottweil im Gespräch mit dem Schwarzwälder Boten.

Seit Monaten ruht der Sport. Wie stellt sich die Situation für die Turner der WKG Villingendorf/Rottweil zusammengefasst dar?

Wir haben im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten versucht einige Trainingsangebote anzubieten. Im Zeitraum von November bis Dezember bestand immerhin die Möglichkeit, dass jeweils zwei Turner eigenständig ein Gerätetraining absolvieren konnten. In der kompletten Lockdown-Phase haben wir zwei- bis dreimal die Woche ein Online-Training angeboten. Die Schwerpunkte in diesem Angebot wurden in die Bereiche Beweglichkeit, Dehnung und turnspezifischer Krafthalteteile gelegt. Seit März durften wieder Zweier- Teams in die Halle.

So konnten die Turner zumindest ihre körperliche Grundfitness beibehalten. Selbstredend war ein geschlossenes Mannschaftstraining unter Anleitung und Assistenz der Trainer nicht möglich. Die Trainingsumfänge waren sehr reduziert und die Großgeräte (Hochreck) konnten nicht trainiert werden. Wir hoffen, dass in absehbarer Zeit ein "normales" Training wieder möglich ist.

Die Fitness erhalten ist das eine und wohl auch möglich, aber ein Geräteturner, der nicht an die Geräte kann – da bleiben negative Auswirkungen in vielerlei Hinsicht nicht aus?

Das Hauptproblem in diesem Zusammenhang ist, dass schwierige Elemente (z.B. Doppelsalto am Boden, oder als Reckabgang) nicht trainiert werden konnten. Diese schwierigen Teile wieder Übungsfest zu bekommen hängt von mehreren Faktoren ab. Der Hauptfaktor ist zweifellos, dass sich der Turner wieder angstfrei an diese Teile herantasten muss. Dieser psychische Faktor dürfte entscheidend sein. Diesbezüglich wird es starke individuelle Unterschiede geben. Mit entscheidend wird auch sein, wie bei den einzelnen Athleten die koordinativen Abläufe abgespeichert sind.

Während Fußballer in wenigen Wochen wieder auf einen guten Level kommen können, stellt sich die Situation für Kunstturner schwieriger dar?

Das ist natürlich immer eine Frage des Anspruchs. Auch die Amateurfußballer werden eine gewisse Zeit benötigen, bis die Feinabstimmung innerhalb der Mannschaft wieder stimmt. Turner sind letztlich Individualisten und jeder muss alleine an das Gerät. Es wird sich zeigen, wer in dieser schwierigen Zeit versucht hat, seine turnspezifische Kondition (Beweglichkeit, Kraft, Koordination) einigermaßen zu konservieren.

Fast eineinhalb Jahre Pause, das reißt nicht nur eine Lücke im Turnsport, ist auch zu befürchten, dass es viele der Turner und Turnerinnen weit zurückwirft?

Wie zuvor angedeutet. Es wird sehr unterschiedlich sein, in welchem physischen und psychischen Zustand der Einzelne nach dieser schwierigen Zeit in die Halle zurück kommt. Ist die körperliche Fitness gut, fällt die mentale Einstellung für ein regelmäßiges Training sicher leichter.

Was für ein Zeitrahmen an Trainingseinheiten wäre notwendig, damit die Geräteturner wieder das Leistungsniveau vor dem Lockdown erreichen?

Auch diesbezüglich gilt, dass diese Frage nicht pauschal und allgemeingültig beantwortet werden kann. Manche Turner werden sicher hochmotiviert zu Werke gehen, um ihr Leistungsniveau wieder zu erreichen. Andere werden sicher durchaus Probleme haben, sich wieder zu "schinden" und dreimal in der Woche in die Halle zu gehen um zu trainieren. Wir können als Trainer zwar in pädagogischer und psychologischer Hinsicht den Turnern zur Seite stehen, aber die Eigenmotivation bleibt der wesentliche Faktor.

Bei Kleinkindern könnte es etwas "einfacher" sein, um diese wieder ans Turnen heranzuführen. Aber gestandene Geräteturner von 13 oder 15 Jahren an aufwärts, die schon im Ligabetrieb integriert und aktiv waren, dürften nach der Pause von weit über einem Jahr mehr Zeit benötigen?

Das ist richtig. Gerade die "gestandenen Gerätturner" im Altersbereich 13 bis 17 Jahren werden aufgrund der Pubertät mit großen Problemen konfrontiert. Aufgrund des Wachstumsschubs "stimmt nichts mehr". Das Last-Kraft Verhältnis hat sich völlig verändert, Im Bereich der Beweglichkeit treten Probleme auf. Wer vor einem Jahr mühelos in den Quer,- oder Seitspagat kam, wird sich quälen müssen, wenn er in der Coronazeit diesbezüglich nachlässig war. Auch hier gilt: Sind die Jugendlichen bereit, wieder voll in den Leistungssport einzusteigen? Das bedeutet aber auch, dass ich bereit bin, ein regelmäßiges und zielorientiertes Leistungstraining auf mich zu nehmen.

Wir hoffen auch, dass es uns gelingt, die vielen Kindergruppen wieder für unser Turntraining zu begeistern. Zu berücksichtigen ist aber, dass viele Kinder in einer prägenden Entwicklungsphase beinahe ein Jahr kein Turnen hatten. Es geht ja in diesem Bereich nicht nur um die Schulung von koordinativen Fähigkeiten, sondern auch um die Entwicklung der Sozialkompetenz. Gemeinsames Auf- und Abbauen der Geräte, Hinführung zu eigenverantwortlichem Handeln und gegenseitigem Helfen beim erlernen von Übungsteilen.

Ist zu befürchten, dass die Turnvereine durch den fast schon "ewigen Stillstand" viele ihrer Sportler verlieren werden?

Leider müssen wir diese Befürchtung im Leistungssport wirklich ins Kalkül ziehen. Wir sehen die große Gefahr, dass uns im Jugendbereich viele Talente verloren gehen. Viele Jugendliche haben sich in dieser "bleiernen Zeit" anders orientiert. In den sogenannten Outdoor-Sportarten wird dieses Problem sicher nicht so gravierend sein. Im Breitensportbereich rechnen wir mit weniger Verlusten, da in diesem Bereich Spaß und Geselligkeit im Vordergrund steht.

Dann ist da auch noch die soziale Komponente, sind mittelfristig oder langfristig negative Nachwirkungen zu befürchten, da vor allem den Kindern und Jugendlichen die Kontakte zu ihren Teamkameraden fehlten. Hätte man sich als Trainer da mehr Weitsicht von der Politik gewünscht, sogar erwartet?

Unseres Erachtens macht es keinen Sinn, jetzt über darüber zu lamentieren, was seitens der Politik hätte besser gemacht werden können. Das Pandemiegeschehen war und ist für alle eine Herausforderung mit der noch niemand konfrontiert war. Es ist auch nicht zielführend auf den Profisport zu blicken und eine "Neiddebatte" anzuzetteln. Klar hätten wir uns in manchen Punkten (wie alle Betroffenen) ein bisschen mehr Flexibilität gewünscht.

Dass der Indoorsport total auf Null gefahren wurde, war unserem Ermessen nach nicht nötig. Wir hätten mit zwei, drei Turnern in einer großen Halle mit riesigen Abständen trainieren können. Umgekehrt wären dadurch berechtigte Begehrlichkeiten bei anderen Sportarten geweckt worden. Letztlich gilt auch hier das Solidaritätsprinzip.

Auch wenn sich derzeit die Lage durch die Pandemie deutlich zu verbessern scheint, auf die Trainer und Vereine warten große Herausforderungen, um die Turner wieder für ihren Sport zu begeistern. Hat man dafür schon ein Konzept erarbeitet?

Richtig. Das wird eine große Herausforderung. Wir werden versuchen unser Konzept (das wir auch vor der Pandemie erfolgreich praktiziert haben) umzusetzen. Das heißt, dass wir über den Teamgeist und das kameradschaftliche Miteinander unser Leistungsniveau wieder erreichen wollen. Wir werden nicht dem Fehler verfallen und überstürzt überzogene Leistungsanforderungen stellen. Und ganz große Hoffnung setzen wir auf unser "Leuchtturmprojekt" Turn- und Bewegungslandschaft, die Ende 2022 in Villingendorf fertig gestellt werden soll. Wir sind überzeugt, dass wir mit diesem Projekt (feststehende Geräte, Schaumstoffgruben etc.) für Kinder und Jugendliche äußerst attraktiv werden.

Können die Turnvereine auf die Unterstützung der Eltern bauen, die positiv auf ihre Kinder einwirken, damit die dem Geräteturnen treu bleiben?

Bei Kindern haben wir keine Bedenken, dass den Eltern sehr daran gelegen ist, dass ihre Kinder wieder in die Turnstunde gehen. Die meisten Eltern wissen, wie wichtig Turnen und Sport sowohl für die körperliche als auch psychische Entwicklung ihrer Kinder ist. Bei den Jugendlichen dürfte der Einfluss geringer sein. Wenn ein Jugendlicher nicht die Eigenmotivation mitbringt, werden Eltern auf längere Sicht gesehen auch nichts bewerkstelligen können.

Die Vereine kann man mit dieser Aufgabe nicht alleine lassen. Unterstützung von Verband und Politik sind dabei nötig. Gibt es da schon Signale, die Hoffnung machen, um zur "Normalität" im Turnsport zurückkehren zu können?

Es wird eine "neue Normalität" geben. Und niemand weiß wie sie aussehen wird. In erster Linie wird der einzelne Verein sein Feld bestellen müssen. Die Fachverbände müssen ihre Lehrgangs- und Veranstaltungsmaßnahmen (Trainer Aus- und Fortbildungen, Kampfrichterschulungen etc.) wieder aufnehmen. Die Politik muss dafür Sorge tragen, dass die Sportförderung im Amateursport weiterhin den Anforderungen entspricht. Es wird sich zeigen, ob es im kommenden Jahr möglich ist, große Turnveranstaltungen wie ein Kinderturnfeste oder ein Landesturnfest durchzuführen? Im Moment können diese Fragen nicht beantwortet werden.

Wann kann Geräteturnen im Liga- und Wettkampfbetrieb nach derzeitigem Stand wieder stattfinden?

Der Schwäbische Turnerbund (STB) hat geplant, dass für alle Ligavereine im Herbst ein Pokalturnen durchgeführt werden soll. Die Teilnahme ist jedem Verein freigestellt. Die Ligasaison 2022 soll – abhängig vom Pandemieverlauf – im Frühjahr 2022 beginnen. Als Voraussetzung wurde von Verbandsseite vorgegeben, dass vor Saisonstart zwei Monate kontinuierlich trainiert werden kann.n Die Fragen stellte Jürgen Schleeh.