Gegen Ende des Jahres 2024 beklagten zahlreiche Turnerinnen die Zustände am Kunstturnforum Stuttgart. Nun wird klar: Hinweise auf die Missstände gab es schon Monate zuvor – und zwar von aktiven Sportlerinnen.
Zuletzt ist scheinbar eine gewisse Normalität eingekehrt am Turnstandort Stuttgart. Zahlreiche Sportlerinnen und Sportler absolvierten ihre Trainingseinheiten im Kunstturnforum, die Planungen für Großveranstaltungen wie den 40. DTB-Pokal Ende März schritten voran, und die Skandalmeldungen der vergangenen Wochen beschäftigten die Strategen eher hinter verschlossenen Türen. Doch nun wird gerade in letztere Angelegenheit wieder Schwung kommen.
Zum einen endet am Sonntag die vorläufige Freistellung einer Trainerin und eines Trainers am Bundesstützpunkt in Stuttgart, die aufgrund von Schilderungen von Turnerinnen ausgesprochen worden waren. Ein schier unfassbarer Umgang mit Nachwuchssportlerinnen ist da zuletzt sichtbar geworden: psychischer Druck, Drohungen, verbale Verrohung, Training trotz Verletzungen und Erniedrigungen. Von all dem berichteten zahlreiche ehemalige Sportlerinnen teils sehr detailreich.
Der Deutsche Turner-Bund (DTB) und der Schwäbische Turnerbund (STB) haben Aufarbeitung und Aufklärung angekündigt. Nun braucht es erstmals Zwischenergebnisse, um das weitere Vorgehen mit dem freigestellten Trainerduo zu (er-)klären. Mehr denn je wird sich die Frage stellen: Wie stellen sich die Turnverbände ihre Aufarbeitung vor? Wie konsequent und transparent gehen sie die Aufklärung der Fälle an? Wie stark sind sie wirklich an einer nachhaltigen Veränderung im System Leistungsturnen interessiert?
Diese Fragen sind umso drängender, wenn man in die jüngere Geschichte der aktuellen Entwicklungen eintaucht. Nach Informationen unserer Redaktion gab es massive Anzeichen von Missständen im Kunstturnforum (KTF) nicht erst seit dem kürzlichen Jahresende und nach dem viel beachteten Rücktritt der erst 17-jährigen Meolie Jauch („Es geht mental nicht mehr“). Und die Ex-Turnerin Tabea Alt („Es muss sich einfach etwas ändern“) war mit ihrem Brief im Jahr 2021 nicht die einzige anklagende Stimme, ehe sich vor wenigen Wochen die bedrückenden Schilderungen häuften.
Hinweise schon im ersten Halbjahr 2024
Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 2024 haben sich demnach gleich mehrere Turnerinnen, die in Stuttgart trainieren, unabhängig voneinander mit Schilderungen der oben genannten Missstände an Vertrauenspersonen gewandt. Derzeit aktive wohlgemerkt, nicht ehemalige. Was deutlich macht, dass sich an den Zuständen im System nach den von den Ex-Turnerinnen beschriebenen Zeiten nicht wirklich viel verändert hat.
Sowohl der Landessportverband Baden-Württemberg (LSVBW), als auch der Olympiastützpunkt (OSP) Stuttgart bestätigen auf Anfrage diese Informationen unserer Redaktion. Man habe, nachdem sich diese Fälle gehäuft haben, die Informationen nach den Sommerferien an den entsprechenden Fachverband weitergeleitet und Gespräche initiiert. Mit einer klaren Erwartung.
„Die Dinge, von denen damals die Rede war und die zuletzt auch zahlreich geschildert worden sind, dürfen nicht wieder vorkommen“, sagt Ulrich Derad, der Hauptgeschäftsführer des LSVBW ist. Man erwarte daher von den Fachverbänden „Aufklärung, selbstverständlich unter Einbeziehung externer Experten, und eine konkrete Maßnahmenplanung“, meint Derad. Was zeigt, dass man auf Seiten des Dachverbandes alles andere als zufrieden ist mit dem bisherigen Krisenmanagement der Fachverbände. Zudem wolle der LSVBW an einer „transparenten Überprüfung der Maßnahmen beteiligt werden“.
Tim Lamsfuß, Leiter des Stuttgarter Olympiastützpunkts, bekennt sich auf Anfrage unserer Redaktion zwar klar zu sportlichen Höchstleistungen, auch am Turnstandort Stuttgart. Er sagt aber auch: „Wir stehen hundertprozentig zum Streben nach Erfolg – aber nicht um jeden Preis. Das System Leistungssport hat auch eine soziale Verantwortung – und die duldet keine Drohungen oder Demütigungen von jungen Sportlerinnen und Sportlern.“
Am OSP gibt es derzeit zwei Vertrauenspersonen, an die sich Sportlerinnen und Sportler, aber auch Trainerinnen und Trainer wenden können. Vor Kurzem ist eine 50-Prozent-Stelle mit dem Schwerpunkt Athletenmanagement hinzugekommen. Sie ist besetzt durch die ehemalige Weltklasse-Hürdensprinterin Pamela Dutkiewicz-Emmerich. „Uns ist es sehr wichtig, diese Anlaufstellen außerhalb des Systems einer jeweiligen Sportart zu haben“, sagt Derad.
Verstoß gegen die eigenen Regeln
Der STB erklärt auf Anfrage, es habe nach dem Brief von Tabea Alt vom April 2021 lediglich „zwei weitere offizielle Meldungen an unsere Anlaufstellen im Sommer/Herbst 2024“ gegeben. Auch diese seien „gemäß des für solche Fälle festgelegten Interventionsleitfadens aufgearbeitet“ worden – beziehungsweise: „werden es zurzeit“. Der DTB hat am Wochenende der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ dagegen bestätigt, ihn hätten bereits „im Juli 2024“ erste anonyme Meldungen zu Vorwürfen in Stuttgart erreicht. Die, sollten sie zutreffen, auch ein klarer Verstoß gegen die Regeln sind, zu denen sich Trainerinnen und Trainer deutscher Sportvereine und -verbände bekannt haben.
Im Ehrenkodex des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB), der Deutschen Sportjugend (DSJ), des LSVBW und der Baden-Württembergischen Sportjugend (BWSJ) heißt es unter anderem: „Ich werde das Recht des mir anvertrauten Kindes, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf körperliche Unversehrtheit achten und keine Form der Gewalt, sei sie physischer, psychischer oder sexualisierter Art, ausüben.“
Im entsprechenden Verhaltenskodex lautet der Text unter Punkt 1 und mit Blick unter anderem auf die betreuten Athletinnen und Athleten: „Ich achte ihre Rechte und ihre Würde.“ Und: „Ich stärke sie, für ihr Recht auf seelische und körperliche Unversehrtheit wirksam einzutreten.“ Beide Dokumente sind auch von den Trainerinnen und Trainern am Stuttgarter KTF unterschrieben worden.
Die bereits vor vielen Monaten beschriebenen Handlungen und der angezeigte Umgangston zeichnen ein komplett anderes Bild – weshalb nach Informationen unserer Redaktion das Trainerduo am KTF auch nicht erst nach der Welle der Vorwürfe von Ex-Turnerinnen vorläufig freigestellt worden ist, sondern bereits vorher. „Der DTB und der STB befinden sich in einem Untersuchungsprozess, um die aktuellen Vorwürfe aufzuklären“, antwortet der STB aktuell zur Frage nach dem Stand der Dinge, „hierzu finden derzeit zahlreiche Gespräche – auch vor Ort in Stuttgart – statt. Das weitere konkrete Vorgehen, das Prozessdesign, der genaue Untersuchungsauftrag und die personelle Zusammensetzung der Aufarbeitung werden derzeit auch auf dieser Grundlage definiert.“ Der DTB kündigte am Mittwoch für nächste Woche eine Mitteilung dazu an.
Von den kommenden Maßnahmen am Turnstandort Stuttgart hängt viel in Sachen Glaubwürdigkeit des Leistungssportsystems ab. Vor allem aber die Unversehrtheit aktueller und künftiger Nachwuchssportlerinnen.