Bin ich zu dick? Auch im Spitzensport leiden viele jungen Athletinnen an Essstörungen. Foto: imago/werner.heiber

Ex-Turnerin Kim Bui hat das Thema zuletzt wieder öffentlich platziert: Essstörungen im Spitzensport. Die Tübinger Medizinerin Christine Kopp kämpft seit Jahren dagegen. Wie geht sie vor?

Die ehemalige Turnerin Kim Bui hat jüngst ihre Bulimie-Erkrankung während ihrer Karriere öffentlich gemacht. Zudem wurde das Thema Essstörungen im Spitzensport in einer ARD-Dokumentation aufgegriffen. Christine Kopp widmet sich seit vielen Jahren diesem Thema. Die Oberärztin versucht im Rahmen der jährlichen sportmedizinischen Untersuchung von Kaderathleten Probleme frühzeitig zu erkennen und Lösungen zu finden.

 

Frau Kopp, es wird derzeit viel über das Thema Essstörungen im Spitzensport geredet. Zurecht?

Ja, denn Essstörungen sind im Leistungssport wie auch in der Allgemeinbevölkerung einfach da, das muss man ganz klar sagen. Vor allem während der Corona-Pandemie habe ich phasenweise fast wöchentlich einen entsprechenden Fall von einem beginnenden Energiedefizit gesehen. Es gab Athletinnen, die haben in diesem Zeitraum bis zu zehn Kilogramm abgenommen.

Was verbirgt sich hinter einem Energiedefizit?

Dass die Athletinnen und Athleten weniger zu sich nehmen, als sie bräuchten, um die im Training oder Wettkampf benötigte Energie wieder aufzunehmen. Ein Energiedefizit ist für mich immer ein Vorbote von Essstörungen und entsprechenden Erkrankungen.

Wenn Sie ein solches Defizit feststellen – welche Möglichkeiten haben Sie dann als Sportmedizinerin?

Das Wichtigste ist, mit den Sportlerinnen und Sportlern ins Gespräch zu kommen. Wir reden dann über ihren Tagesablauf, über ihre Mahlzeiten, über mögliche Schmerzen, Begleiterscheinungen wie häufige Infekte oder andere Auffälligkeiten wie etwa ausbleibende Regelblutungen bei jungen Frauen. Schwieriger als eine Anorexie, also eine Magersucht, ist eine Bulimie zu erkennen.

Sind nur Mädchen und junge Frauen betroffen?

Nein. Aber sie sind deutlich in der Mehrzahl, und tatsächlich sind die Anzeichen bei Mädchen auch eindeutiger zu erkennen, etwa durch das angesprochene Ausbleiben der Periode. Bei Männern bräuchte es zum Teil eine Untersuchung der Testosteronwerte. Diese ist aber nicht Inhalt der jährlichen sportmedizinischen Untersuchung.

Früherkennung ist das Ziel

Nach einer solchen Untersuchung können Sie Athletinnen und Athleten auch kurzfristig sperren, was wiederum Karrieren gefährden oder die Teilnahme an Wettkämpfen verhindern kann.

Daher bewegen wir Sportmediziner uns hier ja auch ganz klar in einem Spannungsfeld. Allerdings bin ich bei diesem Thema sehr geradlinig und offen.

Wie also gehen Sie in solchen Fällen vor?

Wenn ich sehe, dass etwas im Argen liegt, versuche ich, alle Beteiligten mit ins Boot zu holen. Das ganze Umfeld, Eltern, Trainer, Manager. Wir besprechen dann gemeinsam, was das Beste ist, damit die Sportlerin oder der Sportler den Sport in gesundem Maße weiter betreiben kann. Dabei ziehe ich auch immer wieder Kollegen aus der Psychologie oder der Gynäkologie hinzu. Ich will den jungen Menschen ja nicht den Sport nehmen. Aber manchmal muss man sie auch vor sich selbst schützen – auch, um chronische Verläufe möglichst zu vermeiden.

Und wenn da keine Einsicht vorhanden ist?

Dann muss man den Athletinnen und Athleten sowie deren Umfeld klarmachen: Wir reden hier über eine Krankheit, noch dazu eine mit einer hohen Sterblichkeitsrate. Zudem können die gesundheitlichen Spätfolgen gravierend sein, können bei Frauen etwa dazu führen, dass sie keine Kinder bekommen können. Oder, dass es zu Depressionen kommen kann. Deshalb ist es ja auch so wichtig, ein solches Energiedefizit frühzeitig zu erkennen. Wenn das Problem erst einmal chronisch ist, wird es schwer.

Wie viele solcher Fälle erleben Sie jährlich?

Wir führen zwischen 800 und 1000 Untersuchungen bei Kadersportlern pro Jahr durch, Darunter sind 20 bis 25 Personen, mit denen ich wegen erster Anzeichen das vertiefende Gespräch suche. Richtig schlimme Fälle im Bereich der Essstörungen sind es jährlich etwa fünf.

Wie ist die Entwicklung?

Es hat sich in den vergangenen Jahren glücklicherweise schon viel verändert. Immer wieder melden sich Trainerinnen oder Trainer bei mir, die mich bitten, einen ihrer Schützlinge mal anzuschauen. Zudem kommen auch Eltern oder die Sportlerinnen und Sportler selbst auf mich zu. Das zeigt, dass ein Umdenken stattfindet.

Kurzfristiger Erfolg, langfristige Schäden

Welche Rolle spielen die Trainerinnen und Trainer?

Natürlich eine sehr wichtige als direkte Bezugspersonen der jungen Athletinnen und Athleten im Sport. Deshalb ist deren Schulung auch sehr wichtig, um ein vielleicht veraltetes Denken aus dem System Spitzensport zu eliminieren. Ich halte aber auch Schulungen über ausgewogene Ernährung und Anzeichen eines RED-S-Syndroms (Anmerk. d. Red.: damit ist das Energiedefizit gemeint) vor sehr jungen Talenten, etwa beim Württembergischen Leichtathletikverband. Damit diese angehenden Spitzensportler das alles auf jeden Fall mal gehört haben und bei Fragen auch eine Anlaufstelle haben.

In verschiedenen Sportarten ist die Verlockung nach wie vor groß, über Gewichtsverlust die Leistung direkt zu steigern.

Das mag sein. Die Krux an der Sache ist aber: Es ist nur ein kurzfristiger Effekt. Und irgendwann kippt das Ganze dann. Wichtig ist, dass die jungen Sportlerinnen und Sportler Vorbilder haben, die zeigen, dass man auch ohne diesen extremen Gewichtsverlust erfolgreich sein kann.

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