Boris Palmer (rechts) und Mietervereins-Chef Marc Roth haben zusammen eine Denkschrift verfasst. Foto: /Eberhard Wein

Mit 100 Milliarden Euro päppelt die Bundesregierung die Bundeswehr auf. So viel sollte ihr auch der Wohnungsbau wert sein, findet der Tübinger Oberbürgermeister.

Deutschland braucht nicht nur ein Sondervermögen für die Bundeswehr, sondern auch eines für den Wohnungsbau. Was der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer im April in der ZDF-Sendung „Markus Lanz“ als Forderung formuliert hat, liegt jetzt als neunseitige Denkschrift vor. Darin skizziert der Ex-Grüne zusammen mit dem Chef des örtlichen Mieterbundes, Marc Roth, wie ein solches 100-Milliarden-Euro-Programm aussehen könnte. Die Orientierung am Sondertopf für die Bundeswehr ist dabei nicht willkürlich. Denn zum einen sei die Schieflage am Wohnungsmarkt aus seiner Sicht für Deutschland „nicht weniger gefährlich als der Angriff auf die Ukraine“. Zum anderen entsprächen 100 Milliarden – so groß ist auch das Sondervermögen für die Bundeswehr – dem gegenwärtigen Bedarf auf dem bundesdeutschen Wohnungsmarkt.

Kapitaldecke der Wohnbauunternehmen sinkt

„Wir brauchen eine Million neue Sozialwohnungen“, sagte Palmer unserer Zeitung. Bei geschätzten Erstellungskosten von durchschnittlich 400 000 Euro pro Wohnung entspricht eine Milliarde Euro dem dafür notwendigen Eigenkapital. Üblicherweise müssen Wohnungsbauunternehmen 25 Prozent der Bausumme aus eigenen Mitteln bestreiten, um die restlichen 75 Prozent auf dem Kapitalmarkt aufnehmen zu können.

Bei vielen kommunalen Wohnbauunternehmen ist die eigene Kapitaldecke zuletzt aber wegen der hohen Baukosten stark geschrumpft. Auch bei der Tübinger Gesellschaft für Wohnungs- und Gewerbebau (GWG) sank die Eigenkapitalquote klar unter 30 Prozent, was die Kapazitäten für neue Projekte stark einschränke.

15 Jahre warten auf eine Wohnung

Wie groß der Wohnungsbedarf ist, belegen die Mietsteigerungen, die deutschlandweit seit 2020 mehr als sieben Prozent betragen hätten, sagte Roth. Viele Städte im Südwesten lagen allerdings deutlich darüber. So stieg die Durchschnittsmiete in Tübingen um 24 Prozent. Der durchschnittliche Quadratmeterpreis liegt in der Unistadt damit bei 14,60 Euro. Normalverdiener wie Krankenschwestern oder Busfahrer könnten sich das nicht mehr leisten, sagte Palmer. Sie alle seien auf Sozialwohnungen angewiesen, die aber besonders rar seien. „Unsere GWG hat 1500 Familien auf der Warteliste, es werden aber pro Jahr nur 100 Wohnungen frei“, sagte Palmer. Statistisch gesehen müssten Anspruchsberechtigte also 15 Jahre warten, ehe sie zum Zuge kämen.

Das Argument, dass ein solches Programm den Schuldenstand des Bundes unter Umgehung der Schuldenbremse nur weiter erhöhe, sticht für Palmer nicht. Im Gegensatz zu dem 100-Milliarden-Programm für die Bundeswehr werde das Geld ja nicht verbraucht, sondern fließe in Wohnungen und bleibe damit als Wert erhalten. „Da entsteht ein wirkliches Sondervermögen“, wenn auch bei den Wohnungsbaugesellschaften. Die Zinszahlungen könnten aus den Gewinnen bestritten werden. Eine entscheidende Rolle weisen Palmer und Roth den kommunalen Wohnungsbaugesellschaften zu. Deren Know-how und Marktkenntnis müsse genutzt werden, damit nicht am Bedarf vorbei gebaut werde, sagte Roth. Dem Bundesbauministerium solle die Erfolgskontrolle obliegen. Roth und Palmer glauben, dass dadurch eine Mietpreis dämpfende Wirkung von 20 Prozent erreicht werden könne. Auch Genossenschaften könnten am Sondervermögen beteiligt werden. „Bei Großkonzernen wie Vonovia kann ich mir das allerdings nicht vorstellen“, sagte Palmer. Dass das Geld des Sondervermögens vor allem in den Westen Deutschlands fließen dürfte, während im Osten lediglich vereinzelte Boomstädte wie Dresden oder Leipzig partizipieren würden, hält Palmer für unproblematisch. „Jahrelang gab es eine spezielle Ostförderung“, jetzt sei der Westen eben dran.

Und was sagt die Bauministerin?

Die Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) hatte bei der Lanz-Sendung Palmers Vorschlag nicht kommentiert. Bisher liege die Denkschrift dem Bauministerium noch nicht vor, sagte eine Sprecherin. Sie verwies darauf, dass sich gegenwärtig 390 000 Wohnungen in Bau befänden. Für die notwendige Wende beim Sozialwohnungsbau stelle der Bund innerhalb von fünf Jahren die Rekordsumme von 18 Milliarden Euro zur Verfügung. Auch die Länder stockten ihre Mittel auf. Grundsätzlich wolle man stärker in die Objektförderung investieren und habe dazu eine Bedarfsstudie in Auftrag gegeben. Zuvor hatte ein Untersuchung ergeben, dass die so genannte Subjektförderung, also die Auszahlung von Wohngeld, zu einer weiteren Erhöhung von Mieten beigetragen habe.

Wohnungen für fünf Millionen Menschen

Wohnbau
In Deutschland gibt es rund 750 kommunale und öffentliche Wohnbaugesellschaften. Sie bewirtschaften rund 2,5 Millionen Wohnungen und geben damit fünf Millionen Menschen ein Dach über dem Kopf.

Sozialwohnungen
Beim Sozialwohnungsbau sind diese kommunalen Gesellschaften besonders aktiv. Sie hätten im vergangenen Jahr auch am häufigsten Förderungen zum Neubau von Sozialmietwohnungen in Anspruch genommen. In 42 Prozent der Fälle habe es sich um solche Unternehmen gehandelt, erklärte das Bauministerium.