Zeitzeuge Karl Volk erinnert sich.Foto: Archiv Foto: Schwarzwälder Bote

Heimatgeschichte: Zeitzeuge Karl Volk erlebt das Ende des Zweiten Weltkriegs als kleiner Bub / Bilder bleiben im Kopf

Der Gremmelsbacher Zeitzeuge Karl Volk erinnert sich noch gut an das Jahr 1945, in dem der Zweite Weltkrieg endete.

Triberg. Voraus ging das Erlebnis, einen Vater zu haben und ihn zu verlieren. Da war längst klar, dass durch die großen Schlachten um Stalingrad (1942) und im Mittelabschnitt 1944 der Krieg verloren war. Hoffnungslos außerdem die Situation durch die Invasion (6. Juni 1944) und die Luftschläge der Engländer und Amerikaner. Der letzte Geburtstag des "Allgewaltigen" wurde noch abgehalten, regennasse Hakenkreuzfahnen hingen noch einmal an Stangen und verschwanden sofort für immer.

In die Kinderseele gebrannt

75 Jahre nach dem Umsturz richtet sich meine Erinnerung auf die historische Katastrophe des Zusammenbruchs des Deutschen Reiches, nicht, als ob jetzt durch mich bisher unbekannte "umstürzende" Erkenntnisse gewonnen werden könnten. Das Geschichtsbild der Historiker wird sich nicht ändern. Doch was sich einem Achtjährigen unauslöschlich in die Seele gebrannt hat, ist so sehr Geschichte, wie was ein Feldarzt auf dem Verbandsplatz hinter der Front erlebt hat. Es sind diverse Begebenheiten, zusammengehalten allein durch das Inferno des Kriegsendes.

Soldaten in den Familien

Dass die Niederlage trotz aller Propaganda mit einer sogenannten "neuen Waffe" bevorstand, daran zweifelte niemand mehr. Es waren zu viele Kriegsversehrte, die verlustreiche Kämpfe erlebt hatten und nur mit Glück dem Tode entkommen waren, Flüchtlingszüge aus Ostpreußen, ihre Kinder neben uns auf der Schulbank, zu viele Gefallenen- und Vermisstenmeldungen, ausgetragen von Ortsgruppenleiter Theophil Finkbeiner, vor der Urlaubssperre auch noch Urlauber, die Grauenvolles zu berichten hatten. Dass der Führer unbeirrt an den Sieg glaubte, nahm ihm niemand mehr ab. Soldaten, die weiß Gott wohin verlegt wurden, wies man zum Übernachten Familien zu. Feine junge Kerle und gesetzte Männer kamen zu uns. Wie liebten wir sie, weil wir in ihnen unsern Vater sahen. Keiner war, was man einen "gemeinen Soldaten" nannte. Kein einziger war im Mindesten vom Ungeist Hitlers angesteckt. Ihr ferneres Schicksal blieb uns unbekannt.

Und überall Gerüchte

Natürlich wurde fast nur vom Krieg gesprochen. Gerüchte schwirrten herum. Eines wusste von neuen Waffen der Feinde, die ihr Ziel nicht mehr verfehlen konnten. In einem Stall seien alle Tiere gestorben, vergiftet von einer Waffe der Feinde.

Nach dem 8. Mai erzählte uns Pfarrer Hermann Schneider, Hitler habe noch einen Bruder gehabt, der sich aber völlig von ihm abgewandt habe. Noch zehn Jahre später waren Zeitgenossen nicht von ihrer Meinung abzubringen, Hitler habe sich irgendwohin nach Südamerika gerettet und lebe dort immer noch in einem Versteck. Zur Geschichte gehört auch, wovon man nichts erfuhr. Nie fiel der Name eines Feldmarschalls oder Generals. Selbst der des populären Erwin Rommel nicht. Erst Jahre später erzählte die Mutter, nach seinem Tod war das Gemurmel nicht mehr zu unterdrücken, bis die Wahrheit an den Tage kam: "Den haben sie umgebracht!"

Kein Thema waren Kriegsverbrechen der Wehrmacht und der SS. Nie, auch im Unterricht nicht, hörte ich das Wort Jude. Das eigene Schicksal und die Sorgen um das der nächsten Angehörigen überdeckten alles andere. Einen "Volksempfänger" hatten wir nicht, einzige öffentliche Informationsquelle war das "Schwarzwälder Tagblatt", von der Mutter einmal voll Wut "Schwarzwälder Käsblatt" gescholten. Auch dieses erschien bald nicht mehr.

Dass Lebensmittel, Kleider und Schuhe nur noch auf Karten zu bekommen waren, ist noch heute bekannt. Letztere auch nur mit "Glück". Da half ein Stück Speck oder ein Pfund Butter, durch die Hintertür gebracht, etwas nach.

Der Tauschhandel nahm immer groteskere Formen an. Wir kamen für irgendetwas Essbares zu einem meisterlich geformten Backblech und haben es heute noch. Schäbig will uns heute erscheinen, dass wir für einen Schinken und einen halben Zentner Kartoffeln eine Standuhr eintauschten. Sie wurde uns dafür angeboten. Eine Meinung damals dazu: Ein viel zu hoher Preis für diese Uhr. So hatten sich die Werte verschoben.

Bis zuletzt wurde immer für etwas gesammelt, für das Winterhilfswerk zum Beispiel, als Belohnung gab es einmal kleine Vögelchen zum Anstecken, an denen nur wir Kinder unsere Freude hatten. In der Schule war wichtiger als die Hausaufgaben das Sammeln von Teeblättern, Himbeerblättern, Brombeerblättern, Frauenmäntele, zuletzt waren es einmal Haselnussblätter, "damit die Soldaten nicht solchen Durst leiden müssen". Getrocknet wurden sie auf der Langbühne in der Kirche. Kein Fetzchen kam an der Front an, so ein Soldat auf meine Frage.

Mit Spannung wurde der Einmarsch der Franzosen am 20. April erwartet. Den Vortrupp bildeten in der Mehrzahl Marokkaner, manche "schwarz wie Glanzruß". Triberg wurde nun vom "Kommandanten" geführt (seinen Namen Pierre Riché erfuhr ich erst Jahrzehnte später), nach allem, was ich hörte, einem rechtschaffenen Mann, der insbesondere Einbrüche und Diebstähle zu verhindern versuchte.

Nächtliche Ausgangssperre

Vom Nationalsozialismus waren wir endlich befreit, aber es war eine zweifelhafte Befreiung. Die Redefreiheit war wieder gegeben, aber unter Vertrauten hatte man sie immer schon gehabt. Dafür mussten wir uns an die nächtliche Ausgangssperre gewöhnen, alle Deutschen hatten eine weiße Armbinde zu tragen, Parteimitglieder mit drei schwarzen Streifen.

An Fahrräder waren Nummernschilder anzubringen. Abgeliefert werden mussten Bienenvölker, Vieh, Radiogeräte und Wolldecken. Im Demontageprogramm der Alliierten standen an vorderster Stelle Maschinen, auch davon erfuhr ich damals, aber aus diesen wurden oft Teile entfernt, so dass sie nie mehr funktionierten.

Besatzer verbreiten Angst

Besatzungssoldaten kamen auch in die Dörfer, junge leichtgebaute Kerle, blendend weiße Zähne, Turban auf dem Kopf, im Kopf nichts anderes als die Deutschen zu bestehlen. Meinem Großvater wollten sie die Taschenuhr abnehmen, er hatte sie glücklicherweise nicht dabei. Begehrten sie Einlass, pochten sie mit allem Ungestüm an die Türe. Wir hatten unter unsern Verwandten ein rhythmisches Klopfen vereinbart, um uns nicht zu erschrecken. Als Besatzer führten sie sich auch wie solche auf. Hamstern war offiziell verboten, Hamsterware wurde abgenommen.

Die weißen Franzosen vertrieben sich die Zeit mit Angeln (auch die Frauen) wie in eigenen Bächen. Was uns sehr unangenehm auffiel, sie töteten die Fische nicht, sondern ließen sie ersticken. Überhaupt ihr Verhältnis zu Tieren! Erzählt wurde uns, dass ein Marokkaner ein Schaf an einem Hinterbein durch Triberg zu seiner Behausung zog, den Hasen der Nachbarin wollte einer an den Ohren nach Triberg tragen, was diese laut schreiend mit der Hilfe des Lehrers, der zufällig des Weges kam, verhinderte.

Tiere tun dem Jungen leid

Das Folgende habe ich selbst gesehen: Hühnern warfen sie Steine und Stöcke nach, so dass diese davon stoben, wenn sie Marokkaner schon von weitem sahen. Am Kamm und an den Füßen gehalten, trugen die Marokkaner sie davon. Berittene weiße Besatzer banden die Hühner am Sattel fest. Ihre Esel trieben die Marokkaner mit großem Tempo die Stadt hinauf. Ich schaute ihnen nach. Als ein Tier einmal eine Kleinigkeit zurückblieb, bekam es einen Fußtritt unter den Bauch. Das Tier rannte daraufhin, was es konnte, um sich an die Spitze des Zuges zu bringen. Mir war, als führe mir der Stiefel in den Bauch. Tierschutz war diesen Soldaten fremd.

Gefürchtet waren ferner die ehemaligen "Ostarbeiter", die sich jetzt zu Horden zusammenfanden und nachts Einbrüche verübten. Wir sperrten vorsorglich die Haustüre durch eine Stange, die Kellertüre mit einem dicken eisernen Nagel, der durch den Stubenboden getrieben worden war. Frauen hatten besonderen Grund sich zu fürchten. Immer wieder hörte man von Übergriffen, obwohl Erwachsene solche vor Kindern meist zu verheimlichen suchten.

Ein Ostarbeiter, den wir wohl kannten, kehrte eines Abends bei uns an, und es schien, als wolle er ewig bei uns bleiben. Ich wunderte mich, dass ich, solange er da war, nicht ins Bett musste. Was ich nicht verstand, am nächsten Morgen sagte Mutter, sie habe Angst gehabt. Ich wusste nicht warum, wollte auch nicht nach den Gründen fragen.

Ins Haus eingedrungen waren einmal zwei vermutliche Polen, trotz verschlossener Haustüre. Ihr unentwegtes Rütteln hatte den Riegel zurückweichen lassen. Die Beiden standen schon im Hausgang, gingen aber wieder! So wissen wir nicht, was uns sonst geblüht hätte.

Zwangsverpflichtet waren sehr junge russische Mädchen, kenntlich an ihren weißen Kopftüchern, bei der Firma Tränkle beschäftigt. Ob ihnen später ihre Arbeit als Verrat an der Heimat zur Last gelegt wurde und sie dafür von ihren Landsleuten erschossen wurden, wissen wir nicht. Nach Augenzeugenberichten geschah solches in der Nachbarstadt St. Georgen.

Dass es manchen Menschen noch schlechter ging als uns, zeigten uns die Hamsterer. Wir hatten immerhin eine Kuh, ein Schweinchen, Hühner und einen Garten. Bei sachgerechter Bewirtschaftung genügte das zum Überleben. Meist waren die Hamsterer verschämte Arme, denen es ersichtlich peinlich war, ein paar Eier, einen Liter Milch oder ein paar Kartoffeln zu heischen. Nur einmal musste einer ohne Milch gehen, weil die Kuh vor dem Kalben "trocken" stand.

Plötzlich viele Verwandte

Viele Bauern wunderten sich, mit wie vielen Leuten aus der Stadt sie auf einmal verwandt waren und diese die Beziehungen wieder aufleben lassen wollten, sei es durch einen Besuch am Sonntagnachmittag oder durch ehrliche Arbeit die Woche hindurch. Die Eisenbahnzüge waren schon vor dem Umsturz brechend voll gewesen. Viele Fahrgäste mussten auf der Plattform zwischen den Waggons aushalten. Die Beleuchtung im Innern war kaum heller als eine glimmende Zigarette.

Die in den letzten Kriegstagen von einem deutschen Kommando gesprengte Glasträgerbrücke in Niederwasser wurde mit schweren Baumstämmen wieder provisorisch aufgebaut, langsamer als im Schritttempo fuhr der Zug darüber. Das erste Pfeifen der Lokomotive wurde als Symbol verstanden: Es geht wieder aufwärts. Von Pünktlichkeit der Züge konnte noch lange keine Rede sein. Von Triberg bis Donaueschingen brauchten wir einmal zwei Tage. Ein unvergessliches Erlebnis.

Wohlstand weit weg

Zur allmählichen Normalisierung gehörte, dass die meisten Flüchtlinge abzogen, und dass es ganz langsam auch wieder mehr zu kaufen gab, das erste Weißbrot wurde mit Freude begrüßt.

Aber von jedem Wohlstand war man noch weit entfernt, auch als die Lebensmittelkarten abgeschafft wurden.

Zukunftsvorstellungen? Wir hofften immer noch, dass der Vater eines Tages zurückkehren werde. Dann wäre für uns alles gut gewesen, gleichgültig ob wir unter französischer oder irgendeiner anderen Besatzung hätten leben müssen.

Ich hätte mit Begeisterung Vaters Schreinerberuf erlernen wollen, und mein Glück wäre vollkommen gewesen. Mir fehlte seine praktische Anleitung. Langeweile war die Folge, missglückte Bastelversuche, Blödelei, fehlendes technisches Wissen, das Schulkameraden hatten, deren Väter zu Hause bleiben oder aus Krieg und Gefangenschaft heimkehren konnten.

Nur kein neuer Krieg...

Ich war zwar schon früh ein Bücherwurm, aber kein richtiger Junge kann den ganzen Sonntagnachmittag lesen. Vorstellungen über eine staatliche Ordnung zu entwickeln, war einem Neunjährigen ohnehin nicht möglich. Wenn nur kein neuer Krieg kommt, war der einzige Gedanke. Es war die Situation abertausender Kriegshinterbliebener.