Wie schlimm wird das Covid-Drama noch? Jetzt warnt Peter Rosenberger, Chef des Uni-Klinikums Tübingen: Auch die Hausärzte müssen damit rechnen, die gefürchtete Triage durchzuführen. Das heißt: Schon der niedergelassen Arzt muss entscheiden, wer die beste Chance hat, zu überleben.
Tübingen/Region - Es sind Schock-Nachrichten vom Uni-Klinikum Tübingen (UKT). Seit Wochen ist Martin Holderried – Mitglied im Landkreis-Team "Impfen" – und Geschäftsführer Zentrale Medizin im UKT dabei, überall im Landkreis Tübingen Impforte aufzubauen. Egal, ob Impforte in Hirschau oder Rottenburg – Holderried hilft auch noch niedergelassenen Ärzten bei Impfstoffmangel.
Jetzt sagt er im Live-Talk des UKT auf "Sectio Chirurgica" bei Youtube: "Wir haben bisher 450.000 Impfungen verabreichen können. Trotzdem werden wir es nicht schaffen, eine ausreichende Impfquote zur Bewältigung der Corona-Pandemie zu erreichen!" Deshalb zittert nicht nur die Station 39 im UKT, wo die schwersten Corona- und alle anderen Notfälle behandelt werden, vor der Triage.
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Wer wird auf die Intensivstation aufgenommen?
Urban Wiesing, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin: "Wir sind schon nahe dran an dieser Situation. Nicht nur bei Corona-Patienten, sondern auch in anderen Fällen. Dass Operationen verschoben werden und diese Verschiebung irreversible Schäden verursacht." Laut Wiesing geben die Divi-Richtlinien sogar die sogenannte "Ex-Post-Triage" her: "Man muss die Entscheidung treffen, ob man ihn, der bessere Überlebenschancen hat, auf die Intensivstation aufnimmt. Und bei einem Patienten, der geringe Chance hat, zu überleben, die Maschinen abstellt!"
UKT-Chef Peter Rosenberger wird konkreter: "Denkbar sind Entscheidungen zwischen einem jungen Patient, der gute Aussicht auf Therapieerfolg hat und einem Patient, der nach drei bis vier Wochen Intensivstation kaum Fortschritte zeigt. Solche Entscheidungen mussten schon immer getroffen werden – aber in dem Ausmaß wie während der Corona-Pandemie mussten die bei uns und deutschlandweit noch nie getroffen werden!"
Die Entscheidung könnte bald Hausärzte belasten
Und diese schwierigen Entscheidungen – die müssen nicht nur Pfleger und Ärzte im Uni-Klinikum Tübingen treffen. Bald könnte das auch die Hausärzte belasten.
UKT-Chef Rosenberger: "Ein großer Teil dieser Triage-Entscheidungen wird schon vor der Tür der Intensivstation stattfinden – bei den Allgemeinmedizinern. Sie müssen entscheiden: Wen reichen sie weiter? Wer nimmt Schaden, wenn er noch drei bis vier Monate auf seine Tumor-OP wartet? Bei einem Tumor, wo man normal eine Überlebenschance von 95 Prozent hat? Und diese Chance bei einer OP-Verschiebung auf 50 Prozent sinkt?"
Natürlich müssen diese schwierigen Entscheidungen auch bei Covid-Patienten getroffen werden. Klinikchef Peter Rosenberger: "Wir wissen inzwischen, dass die Symptome in mehreren Phasen verlaufen. Kritisch wird es häufig nach ein paar Tagen oder einer Woche, in der die Patienten sauerstoffpflichtig werden. Das ist eigentlich der Zeitpunkt, wo die Patienten in die Klinik kommen sollten. Doch es gibt auch medikamentöse Therapie. Da sind die Hausärzte gefordert, auszusortieren. Ist es notwendig, die Patienten in die Klinik zu schicken?"
Alle fürchten die Triage
Derzeit sei die Situation aber noch nicht so weit. Das betont Michael Schlotterer, Bereichsleiter Anästhesiologische interdisziplinäre Intensivstation 39: "Wir sind noch nicht an diesem Punkt. Die Zahlen wachsen kontinuierlich seit zwei Wochen. Wir haben noch Ressourcen, aber jeder im Team hat die Befürchtung und die Ängste, dass es zu Triage-Situationen kommen kann. Für die Beteiligten vor Ort wäre das die Katastrophe!"
UKT-Chef Rosenberger: "Wenn es so weitergeht mit den hohen Infektionszahlen, könnte es zu Weihnachten soweit sein, dass auch unsere Ressourcen an der Uni-Klinik knapp werden. Wir wissen: Nach zwei bis drei Wochen nach den hohen Infektionszahlen kommen die Patienten auf die Intensivstation. Zwar hat sich die Quote der Covid-Intensivpatienten durch die Impfungen von ein auf 0,5 bis 0,6 Prozent reduziert. Aber: Vor zwei Wochen waren 390 Intensivbetten in Baden-Württemberg belegt. Heute (gemeint Donnerstag, d. Red.) waren es 640!"
Pandemie hat viele Probleme demaskiert
UKT-Chef Rosenberger: "Die ambulanten und niedergelassenen Ärzte haben schon in den letzten Covid-Wellen eine exzellente Rolle im Abfangen für uns als Uni-Klinik gespielt. Die Leistungsfähigkeit der medizinischen Versorgung ist schon da. Die Pandemie hat viele Probleme, die wir hier hatten, demaskiert." Damit meint er insbesondere das Pflege- und medizinische Fachpersonal: "Die wurden vor Corona nicht entsprechend behandelt."
Stefanie Joos, Ärztliche Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin und Interprofessionelle Versorgung: "Wichtig könnte werden, dass schon die Hausärzte triagieren. Das beginnt bei der Entscheidung: Bei wem muss ich wirklich einen Hausbesuch machen? Viele Patienten können telefonisch betreut werden. Wie verteile ich meine Ressourcen? Wann muss ich ins Krankenhaus einweisen? Die Gefahr ist schon groß, dass es bei anderen Patienten zu Unterversorgung kommt!"
Info: Video zum nachschauen
Wer den Live-Talk des UKT nachholen möchte, kann dies auf dem Kanal "Sectio Chirurgica" bei Youtube.