Die Olympischen Spiele 2021 hat Leonie Adam verpasst, was ihr ziemlich zugesetzt hat – deshalb will die Trampolin-Turnerin auf jeden Fall in Paris 2024 dabei sein.
Sie hat sich dran gewöhnt, die gefühlte Mutter der Riege zu sein. Leonie Adam wird im Januar zwar erst 30, doch damit ist sie bei den deutschen Trampolin-Turnerinnen mit Abstand die Älteste; Aileen Rösler, ihre Clubkollegin beim MTV Stuttgart und in der Nationalmannschaft, wird im November erst 24 – und dieses Alter ist nur unwesentlich höher als die Zeitspanne, in der Leonie Adam ihre Karriere zwischen Tuch und Hallendecke betreibt. „Vor 22 Jahren habe ich angefangen“, erzählt die Frau aus Filderstadt, „ich bin mittlerweile in diese Rolle hineingewachsen. Ich gebe den Jüngeren gerne meine Erfahrung weiter.“
An diesem Wochenende steigt die EM-Sechste im Einzel in der Scharrena in Stuttgart aufs Gerät, wenn einer von drei Wettkämpfen zur WM-Qualifikation (Samstag 10 Uhr) und am Sonntag (11 Uhr) die deutsche Meisterschaft im Synchron anstehen. Leonie Adam, die im Sommer den nationalen Titel im Einzel aus Berlin mit nach Stuttgart gebracht hat, kann am Samstag völlig ohne Druck ihre Kür mit den zehn Elementen präsentieren, denn als deutsche Meisterin ist sie für die Titelkämpfe im nächsten Jahr in Birmingham gesetzt. Ein Training unter Wettkampfbedingungen. „Das ist gut so“, sagt sie, „denn ich werde eine neue Abfolge turnen, ich habe auch Sprünge ausgetauscht und will mehr Höhe springen.“
Die Modifikationen an ihrer Kür sind nicht aus einer Laune heraus entstanden oder dem Drang, unbedingt mal was Neues ausprobieren zu müssen – nach der verpassten Olympia-Qualifikation für Tokio hat Leonie Adam 2022 zum Jahr des Neustarts erklärt. „Ich habe entschieden, alles noch einmal auf den Kopf zu stellen“, sagt die 29-Jährige, die in Rimini in diesem Jahr mit dem Team EM-Bronze gewonnen hat. Sie war ein ein tiefes mentales Loch gefallen, weil sie die Sommerspiele 2021 lediglich als Zuschauerin verfolgen durfte. Es war freilich nicht das erste Mal in ihrer langen Karriere, dass die 1,62 Meter große Turnerin (54 kg) einen heftigen Rückschlag verkraften und verarbeiten musste, aber dieser Misserfolg hat dazu geführt, noch einmal sämtliche Stellschrauben in ihrer sportlichen Ausrichtung neu zu justieren, an der einen wird mehr gedreht, an der anderen weniger.
Das Ergebnis: Leonie Adam arbeitet nun mit einem neuen Sportpsychologen zusammen, nicht weil sie mit ihrem bisherigen unzufrieden gewesen wären, der sie seit 2016 betreute, sondern weil sie sich neue Arbeitsweisen, neue Blickwinkel dadurch versprochen hat. „Manches nutzt sich ab“, sagt sie. Zudem lässt sie sich von einer Ernährungsberaterin anleiten, was sie in den zurückliegenden 22 Jahren noch nie getan hat. Und schließlich hat die Olympia-Zehnte von Rio ihr Athletik-Training am Olympiastützpunkt deutlich verstärkt, weil sie in ihrer Kür eine höhere Schwierigkeit präsentieren will, wozu höhere Sprünge nötig sind, was eine entsprechende Muskulatur benötigt. „Mein Ziel ist es, bei den Spielen in Paris 2024 am Start zu stehen“, betont die zierliche Frau, „darauf ist mein sportliches Tun hin ausgerichtet.“ Das nächste Jahr ist dafür entscheidend.
Das Trampolin-Ticket für Paris ist nicht einfach zu bekommen, nur 16 Startplätze stehen für die Frauen aus aller Welt zur Verfügung, und diese Berechtigungen werden nach einem komplizierten Schlüssel zugeteilt. Es zählt entweder das Ergebnis der WM 2023 oder die besten drei Resultate aus fünf Weltcup-Wettbewerben. Leonie Adam hat einiges vor der Brust, doch ihr Trainer Michael Kuhn ist überzeugt, dass sie es zu den Spielen 2024 schaffen kann, trotz der riesigen internationalen Konkurrenz. „Das nötige Können hat sie“, sagt der Coach und verweist auf ihre ziemlich perfekte EM-Kür von Rimini, „sie muss aber noch mehr Stabilität im Wettkampf bieten. Für ein Ticket nach Paris muss aber alles klappen.“
Das weiß Leonie Adam natürlich, und genauso weiß sie, dass es ein hartes Stück Arbeit wird, um den zweiten Traum von Olympia nach 2016 wahr werden zu lassen. „Harte Arbeit zahlt sich immer aus“, sagt die mehrfache deutsche Meisterin, die bei einem Start in Paris 31 Jahre alt wäre. Aber im Trampolin-Sport sind unter den Besten der Welt auch ein paar Turnerinnen Ü30 – die Mutter der deutschen Riege muss noch lange nicht abtreten.