Unser Verhältnis zu Tieren ist voller Widersprüche. Wir schätzen sie als Familienmitglieder, lassen sie aber auch in Massen töten. Am Argenhof gelten andere Regeln. Hier wird jede Seele ernst genommen.
Als Viktor vor dem Eingang in den Schlachthof Reißaus nahm, wählte der Jungbulle intuitiv die richtige Richtung. Er rannte in den Altdorfer Wald im Landkreis Ravensburg, wo Klimaaktivisten auf den Bäumen saßen und Journalisten Interviews gaben. Der Bauer wollte keine schlechte Presse und gab die Verfolgung auf. Auch als Viktor Tage darauf in einer weidenden Herde gesichtet wurde, hatte der Bauer Skrupel, dem inzwischen prominenten Rind den Garaus zu machen. Fast dankbar nahm er das Angebot von Christiane Rohn an, das Rind für rund 800 Euro abzukaufen. Seitdem grast der junge Viktor auf ihrem idyllischen Argenhof bei Wangen im Allgäu.
Gnadenhöfe haben heute eine andere Klientel als einst. Schon im 18. Jahrhundert erteilten Bauern altgedienten Gäulen oder Ochsen ihr „Gnadenbrot“ und ließen sie in Ruhe altern. Später wurden die Tiere auf eigens eingerichteten Höfen bis zu ihrem Lebensende bewegt und versorgt. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Landwirte zur Massentierhaltung übergingen, entwickelte sich gleichzeitig ein zunehmend emotionales Verhältnis zu einigen Tierarten, vor allem zum Hund. „Auch Hunde waren früher vor allem Nutztiere, sie wurden vor Karren gespannt und auch mal gegessen“, erinnert die Historikerin Mieke Roscher, die im Fachbereich Human-Animal-Studies der Universität Kassel das Verhältnis zwischen Mensch und Tier erforscht. Die Schlachtung von Hunden war sogar noch bis in die 1980er Jahre erlaubt.
Der Hund stieg vom Nutztier zum geliebten Familienmitglied auf
Erst mit dem Wohlstand in der Nachkriegszeit stiegen Hund und Katze zu vollwertigen Familienmitgliedern auf. „Die Emotionalität muss man sich ja auch erst mal leisten können“, erklärt Roscher. Aus der Liebe zum Haustier verbreitete sich nicht nur ein Dienstleistungsspektrum aus Schulen, Friseuren und Physiotherapeuten, sondern auch die Überzeugung, dass alle Tiere ein Recht auf Leben haben. So ist die Zahl der Gnadenhöfe, die sich heute auch Lebenshöfe nennen, in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen. „Zählt man die ganz kleinen dazu, dürften es bundesweit mehrere Hundert Höfe sein“, schätzt Mieke Roscher. Darunter befinden sich auch ein Dutzend Landwirte, die ihren Betrieb aus ethischen Gründen umgestellt haben.
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Der Argenhof ist mit 7,5 Hektar, 178 Tieren und 20 Mitarbeitern einer der größten und ältesten Gnadenhöfe in Süddeutschland. Hier landen Tiere, die sonst nirgendwo unterkommen, nicht einmal auf Gnadenhöfen. „Wir haben hochaggressive Hunde, Ferkel mit Klauenfehlstellung, die wir mit der Flasche aufziehen, einen Marder mit Epilepsie, Tiere mit Autoimmunerkrankungen, mit Tumoren“, zählt Christiane Rohn auf. Da ist die Katze Lola, die das Gesicht ihrer Halterin bis zur Unkenntlichkeit zerkratzt hat. Da ist das einäugige Lama Soleil und sein Fohlen Soraya, das auf einem Pferdemarkt von der Mutter fast getrennt worden wäre, wenn nicht ein mitfühlender Besucher die Lamas gekauft und zum Argenhof gebracht hätte. Da ist das Pony Adamo, das drei Jahre lang nur mit Gänsen zusammenlebte, nur noch einen Hoden hat und vielleicht deshalb verhaltensauffällig wurde. „Wir sind Hospiz, Forensik und Behinderteneinrichtung in einem“, sagt Christiane Rohn.
Ihre ersten Schützlinge: aggressive Kampfhunde
Der Tierschützerin liegen Regenwürmer genauso am Herzen wie Golden Retriever. Mit der Sicht, dass Tiere und Menschen gleichwertig sind, sei sie groß geworden, erzählt sie. Ihr Großvater rettete im großen Stil Sumpfschildkröten aus Miniterrarien, wo die Tiere depressiv wurden. Ihre Tante erforschte das Verhalten von Fischottern und Fledermäusen.
Sie selbst verlor ihr Herz an verhaltensauffällige Hunde. „Als ich mit 17 Jahren ein Praktikum im Tierheim machte, war ich verzweifelt darüber, wie viele aggressive Hunde keine Chance mehr bekommen“, erzählt sie. So waren ihre ersten Schützlinge Kampfhunde, die sie aus dem Tierheim nach Hause brachte. „Meine Eltern waren nicht so glücklich darüber“, erinnert sie sich. Aber sie bewunderten den eisernen Willen ihrer Tochter und unterstützten sie finanziell, als sie ihren ersten Gnadenhof bei Leutholz aufmachte. Später zog Christiane Rohn mit ihren Tieren noch zwei weitere Male um, bis sie für ihre Schützlinge vor 20 Jahren mithilfe eines Bürgen den Argenhof erwarb, ein ehemaliges Gestüt am Fluss Argen.
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In all den Jahren haben Rohn und ihr Team nur fünfmal kapituliert und Hunde einschläfern müssen, die eine zu große Gefahr darstellten. „Einer davon war Nesko, ein Presa Canario“, erinnert sich Rohn mit Bedauern. „Zweieinhalb Jahre haben wir mit ihm gearbeitet – wir und andere Hundetrainer mit anderen Methoden. Nichts hat gefruchtet.“ Nesko ist Christiane Rohn besonders im Gedächtnis geblieben, weil der Hund es auf das Leben ihrer Mutter abgesehen hatte. Sie hatte zu ihren Lebzeiten auf dem Hof täglich sauber gemacht. „Nesko hatte eindeutig die Absicht, sie zu töten“, sagt Rohn. „Das Risiko, dass einmal eine Tür offen gelassen wird, war mir auf Dauer zu groß.“
Dass selbst schwer traumatisierte Tiere auf dem Argenhof zur Ruhe kommen können, führt Rohn auf die Philosophie ihres Hofs zurück: Jeder Bewohner wird mit seinen Bedürfnissen ernst genommen. Die Tiere werden nicht nur versorgt, sie erhalten auch „Beschäftigungsangebote“. „Sie wollen wie Menschen etwas Sinnvolles tun“, weiß Rohn. Deshalb hat sie eine Rettungshundestaffel ins Leben gerufen, bei der auch Schweine und Schafe mittrainieren. „Die wenigsten wissen, dass diese Tiere genauso auf ihren Namen hören, genauso liebesbedürftig sind und abgerichtet werden können wie Hunde. Aber woher soll man das auch wissen.“
Ostereiersuche mit Pferden
Nicht anders ist die Lust an der Herausforderung bei Rindern, Ziegen oder Pferden. Für sie rollen „Heuboys“ durch die Gegend – das sind Futterspielbälle mit 19 Öffnungen, die sich die Tiere gegenseitig zuspielen. Die Pferde werden auch mit Suchspielen im Wald beschäftigt. Wie bei der Ostereierjagd verstecken die Mitarbeiter vorher Karotten und Apfelschnitze in Bäumen und Sträuchern. Für die neugierigen Schweine gibt es allerhand „Erkundungsmaterial“ – Spielseile, Knabberkugeln, Beißringe, Lecksteine. Um ältere Tiere fit zu halten – Schweine können 20 Jahre alt werden –, wird auch mal Parcours gelaufen. „Wobei kein Tier zu irgendetwas gezwungen wird“, betont die Schweine-Ansprechpartnerin Carmen Weise.
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Jedes Tier darf sich außerdem einen „Bezugsmenschen“ aussuchen, mit dem die Chemie stimmt. „Wir haben höchst unterschiedliche Persönlichkeiten zur Auswahl“, sagt Christiane Rohn. Der Pitbull Amish, der in seinem Vorleben stark unter Druck gesetzt wurde, hat die ruhige Andrea ausgewählt. Die Heilpädagogin beherrscht die Kunst, sich in seiner Nähe so stark zurückzunehmen, dass Amish sich bei ihr entspannt. Das launische Zwergpony Benni kommt gut mit Thomas zurecht, der auch nicht immer gut drauf ist. „Wir spüren, wie es dem anderen geht“, sagt der Tierpfleger. „Passt alles, schmusen wir Kopf an Kopf.“ Carmen ist auf einer Wellenlänge mit Frieda, einer Schweinedame, mit der sie einen respektvollen Umgang pflegt. „Begegnen wir uns in der Stalltür, macht mal sie Platz und mal ich.“ Beste Freundinnen sind das Schaf Shauny und die Betriebsleiterin Franziska. „Wir sind beide sehr verspielt, und wir haben ähnliche Frisuren“, sagt Franziska.
Aber auch zwischen den Tieren entstehen innige Beziehungen. Viktors große Liebe gilt Miri, die – wie er – auf der Fahrt zum Schlachter die Flucht ergriff, im Wald von einer Abbruchkante in die Argen stürzte und eines Dezembermorgens mit tiefgefrorenem Fell vor der Hofeinfahrt stand. „Miri haben wir ohne Rücksprache mit anderen Höfen bei uns aufgenommen“, erzählt Rohn. „Schafft es ein Tier auf eigene Faust bis zu unserer Hofeinfahrt, machen wir eine Ausnahme.“
Gefühle der Eifersucht zwischen zwei Kühen
Cliquenbildung ist zwischen Lamas, Katzen und Hühnern zu beobachten, die allesamt frei herumlaufen. „Sie treffen sich regelmäßig im Heulager zum Nickerchen.“ Aber es gibt auch Misstöne: Die Lamas sind mit den Nerven am Ende, wenn die Ferkel Haken schlagend über das Gelände wetzen. Und die blinde Kuh Cara hegt derzeit einen Groll auf ihre Nachbarin Aya, die noch im Wachstum ist und deshalb eine Handvoll Kraftfutter mehr erhält als sie. „Das erschnüffelt sie irgendwie“, rätselt Rohn.
Um die ganze Meute auszuhalten, benötigt der Argenhof monatlich 40 000 Euro. Unter den Spendern befinden sich keine Großverdiener. Die Summe kommt zusammen aus Daueraufträgen über ein paar Euro, kleinen Erbschaften, geschlachteten Sparschweinen, auch von Kindern. „Die Menge unserer Unterstützer macht es“, sagt Rohn. Die Zeiten waren allerdings schon besser. Zuerst senkte Corona die Besuchszahlen und die Lust am Spenden. Jetzt gilt es, den Menschen aus der Ukraine zu helfen. „Das ist ja auch richtig so“, sagt Rohn. Wesentlich für das Überleben ist in solchen Phasen die Öffentlichkeitsarbeit. Zwei Frauen kümmern sich darum. Sie versenden Newsletter, machen Tiervideos für Facebook, verschicken Pressemitteilungen an die Medien. An Stoff mangelt es nicht. Zuletzt berichtete der Sender RTL über die Kuh Viktoria, die sich bei einem Sturz das Becken und ein Horn brach und per Hubschrauber gerettet werden musste. Viktoria gibt keine Milch mehr und kann auch keine Kälber mehr gebären. Steile Wiesen machen ihr zu schaffen – ein Fall für den Argenhof.
Was manchem vielleicht übertrieben vorkommt, haben sich Visionäre schon im 19. Jahrhundert ausgemalt. „Die Stellung der Menschen gegenüber der Thierwelt würde, wie bei den Buddhisten, eine freundlichere, humanere und mitleidsvollere werden“, schrieb der Publizist und Vegetarier August Leiner 1886 in seinem Buch „Der Vegetarismus im Kampf mit der Wissenschaft“. Und sein Zeitgenosse Gustav Struve, ein badischer Publizist, äußerte 1868 die Hoffnung: „Wenn erst der Krieg zwischen Menschen und Thieren aufgehört hat, wird derjenige zwischen den Menschen nicht lange mehr fortgesetzt werden können.“