Klimbim trifft auf Kunstkritik: Sebastian Hartmann inszeniert am Staatsschauspiel Stuttgart den „Raub der Sabinerinnen“.
Stuttgart - Ein Professor findet beim Aufräumen seine Römertragödie namens „Der Raub der Sabinerinnen“ wieder, die er in Jugendtagen geschrieben hat. Der Geck liest sie seinem Dienstmädchen Rosa vor. Gattin und Tochter Paula erholen sich derweil im Kurort, während seine ältere Tochter Marianne nichts anderes zu tun hat, als ihre „Landlust“-Zeitschriften zu suchen und sich am Gedanken aufzugeilen, dass ihr Arzt-Gatte früher vielleicht mal ein ganz Wilder war. Kurzum: hier herrscht komplette Sorglosigkeit. Kein Drama, keine Tragödie weit und breit. Perfekte Voraussetzung, um aus einer nicht vorhandenen Mücke einen Elefanten zu machen.
Und das geht so: Ein Wandertheaterdirektor kommt in die Stadt, bringt den Professor dazu, das Stück aufführen zu lassen, das er konsequent „Der Raub der Sabincherinnen“ nennt – in der Hoffnung, dass ein Stück eines angesehenen Bürgers ausverkaufte Vorstellungen bringen wird, egal wie schlecht es ist. Allerdings hasst die vorzeitig aus der Kur zurückkehrende Professorenehefrau das Theater, eins kommt zum anderen - bis sich alles wieder in Wohlgefallen auflöst, wie es sich für einen Schwank gehört.
So eine die Zustände der Welt nur bestätigende Lustigkeit ist mit einem Regisseur wie Sebastian Hartmann nicht zu haben. Er verweigert gern die Erwartungen an ein konventionelles Schauspiel, indem er in vier- bis fünfstündigen Inszenierungen Darsteller wie etwa in der Stuttgarter Produktion „Im Stein“ meist hinter der Bühne versteckt. Aber er hat auch – wie in „Staub“ – mit viel Komik und Kritik an bräsiger Selbstzufriedenheit der bürgerlichen Mittelschicht einen tolldreisten Abend geschaffen.
Am Freitag im Schauspielhaus Stuttgart beschränkt sich Hartmann auf zweieinhalb Stunden und streicht dafür leider einige irre Verwicklungen des vielfach verfilmten Schwanks von Franz und Paul von Schönthan aus dem Jahr 1883. Allerdings fährt der Regisseur alles auf, was ihm an Klamauk und Situationskomik einfällt. Er überzeichnet die Komödie mit Mitteln des Schmierentheaters, macht sich über das Genre lustig. Doch, oh Wunder, es funktioniert dank des Ensembles. Hanna Plaß begleitet nonchalant die Pointen am Klavier, die mehrmals wiederholt werden. Ein fleischgewordenes Echo (Manolo Bertling) produziert mal mehr, mal weniger ulkige Kalauer wie „Toll“ – „oll, oll“, Simone – „ohne, ohne“, „helfen“ – „elfen, elfen“ und so fort. So lange geht das, bis Holger Stockhaus als Theaterdirektor ihn anblafft, er wisse ja wohl schon, dass jedes Theatermittel sich irgendwann verbraucht habe.
Der Professor (Peter René Lüdicke) ist ein arger Zitteraal, hat seine Finger nicht unter Kontrolle und kann sich kaum beherrschen, das Dienstmädchen (Manja Kuhl) zu betatschen, der Arzt (Manuel Harder) wiederum bringt dem Professor eine Zimmerpflanze mit der Betonung „Fick“ – Pause – „us Benjaminicus“, und der Theaterdirektor landet beim Anziehen der Schuhe zwischen den Beinen des auf dem Sofa schnarchenden Hausmädchens Rosa. Die Professorengattin Friederike (Abak Safaei-Rad) rauscht furiengleich über die Bühne und bekommt hysterische Anfälle, weil ihr Mann Geheimnisse hat, Professorentochter Paula (Sandra Gerling) schmollt, brüllt und wischt sich mit der Hand über ihre riesigen Brillengläser, als sie mit einem jammerigen Jungschauspieler (erneut Manolo Bertling) flirtet.
Wer sich an „Klimbim“ erinnert fühlt, eine Fernsehklamotte aus den siebziger Jahren, liegt richtig. Nach zwei Stunden ist aber abrupt Schluss mit lustig. Und zwar in der Szene, als eigentlich die Römertragödie des Professors aufgeführt werden müsste. Hier setzt Hartmann ein mit einem Kommentar über das Theater, auch das in Stuttgart. Armin Petras hat jüngst verkündet, seine Intendanz in Stuttgart deutlich zu abzukürzen. Darüber spricht die Stadt – und über die Qualität der Arbeiten sowie über sinkende und steigende Zuschauerzahlen.
Birgit Unterweger spielt jetzt einen österreichischen Kellner, der die Gesellschaft anherrscht, was sie denn nun gern hätte – und bringt beim Aufsagen der Speisen und Getränke Dramatikernamen wie „Aperol Fritz – Kater-Stimmung“ oder Titel von Produktionen unter: von Becketts „Glücklichen Tagen“ bis zu Shakespeares „Lear“ (Claus Peymann wird das Drama in Petras’ letzter Spielzeit 2017/2018 inszenieren). Auf Unterwegers Stichwort „Schmierenkomödie“ setzt wiederum Holger Stockhaus ein.
Sein Part laut Schönthan wäre nun eigentlich, sein Theater zu verteidigen, dabei aber ungewollt der Lächerlichkeit preiszugeben. Das verweigert er und spricht gänzlich unkomisch vom Dasein des Schauspielers, von schauspielerischen Mitteln und so fort. Außerdem kommt der Dramatiker Thomas Brasch mit einem Mitschnitt eines Interviews zu Wort. Er spricht über seine Zweifel, ob „die Gesellschaft tatsächlich das Bedürfnis nach Kunst hat“ und dass es ihm nicht um bürgerliche Kunst zu tun sei, „also diese Ersatz-Kirche, zu der man geht“, sondern die „eigenen Entzündungen oder Brüche oder Verletzungen durch Kunst tiefer zu machen“.
Der Rest ist Schweigen. Fast. Der rote Vorhang hebt sich, gibt den Blick frei auf drei antike Säulen, die langsam einzustürzen drohen. Die Darsteller stehen in pathetischen Posen davor, umwölkt von schwefligem Nebel, eine Säule knickt dann aber nur lasch ab: Die Zeit der großen Tragödien ist vorbei – noch ein Kommentar. Weil der Ironiker Hartmann so halbernst auch nicht enden mag, rieselt es Zettel mit defätistischen Hans-Moser-Liedchen vom Bühnenhimmel: „Wenn der Herrgott net will, nutzt es gar nix. Sei net bös, net nervös, denk es war nix. Renn nur nicht gleich verzweifelt und kopflos herum, denn der Herrgott weiß immer warum.“ Dieser Abend ist von ein bisschen viel Theaterkommentar-Fußnoten und Furcht vor bloßer Komik geprägt, aber dennoch: heftiger Applaus, nicht zuletzt für ein Ensemble, das man nach 2018 vermutlich schmerzvoll vermissen wird.
Weitere Aufführungen 26. November, 9., 12., 20., 30. Dezember, 15., 18., 28. Februar. Karten 0711 /20 20 90