Das Stuttgarter Theater Rampe macht das Dörfchen Michelbach an der Lücke zur Theaterbühne und das Dorfleben zu einer Inszenierung.
Trefflich trägt der Ort im Landkreis Schwäbisch Hall den Namen Michelbach an der Lücke - denn eine Lücke tut sich in seinem Innern auf, seitdem dort ein Haus, Jahrhunderte alt, abgerissen wurde. Michelbach ist nun Bühne und Akteur zugleich. Bernhard Herbordt und Melanie Mohren inszenierten das Dorf für das Theater Rampe: sein Leben, seine Struktur, die Ahnungen von Zukunft und Vergangenheit, die über ihm schweben. Bürger und Besucher werden Teil einer Performance, wandern durch das Dorf, dessen Orte und Institutionen von Künstlern verwandelt, kommentiert wurden - Michelbach hat seinen Auftritt zwischen Realität und Fiktion, Kunst und Alltag.
Nachdem das Theater Rampe in den vergangenen Jahren in einer Performance-Reihe zu Theater und Gesellschaft unterschiedliche Komponenten befragte, die dieses Verhältnis bestimmen, interessierte es sich nun dafür, die Grenze endgültig zu verschieben, die Wirklichkeit Theater werden zu lassen. Der „Geometrische Heimatroman“ des österreichischen Schriftstellers Gert Jonke und das „Naturtheater von Oklahoma“, das letzte Kapitel in Kafkas unvollendetem Roman „Amerika“, gaben entscheidende Anregungen; Kerstin Gothe, Professorin am Karlsruher Insitute of Technology, dort Leiterin des Fachbereichs für den ländlichen Raum, begleitete das Projekt und stellte den Kontakt zur Gemeinde her. Öffentliche und private Räume, der Strukturwandel auf dem Lande wurden zum Thema; bis zum Spätsommer 2016 will das Theater Rampe in zweiwöchigem Rhythmus aufbrechen nach Michelbach an der Lücke – mit Gästen, die dieses Dorf als Theater erleben sollen.
An diesem Sonntag startete ein erster, voll besetzter Reisebus am Theater Rampe zum rund 120 Kilometer entfernten Michelbach. Tags zuvor feierte die Rampe in Stuttgart ein Dorffest mit Kaffee, Kuchen, Kunst, Interaktion und Theorie. Während der Fahrt begegnen die Teilnehmer der Landpartie den einzig professionellen Schauspielern, die mitwirken: Judica Albrecht und Armin Wieser schlüpfen kurz in die Rolle eines fiktiven Ortsvorstehers und einer fiktiven Bürgermeisterin, die von Michelbach erzählen.
Das Museum betritt man durch eine Garage
Die Inszenierung des Dorfes erweist sich auf unterschiedlichen Ebenen als unterhaltsam, ja oft faszinierend: Bei den Stationen des theatralischen Dorfparcours’ handelt es sich um unbewohnte Häuser und aufgegebene Institutionen, die von den Künstlern Gabriela Oberkofler, Gordon Kampe, Michael Kleine und Michl Schmidt gestaltet wurden. Auf dem Dorfplatz steht eine Skulptur, auf der Kuchen geschnitten wird; in einem Haus befindet sich ein Archiv, das reale und fiktive Geschichte vermengt; das Museum betritt man durch eine Garage, in der ein alter Wagen vor sich hin staubt.
Der Saal der evangelischen Gemeinde wird zur Theaterloge. Von ihr aus blickt man auf den Dorfplatz, auf dem sich immer wieder das Michelbacher Bürgerorchester versammelt, um eine Sinfonietta mit Luftballon, Kochtopf, Akkorden und Waldhorn zu spielen. und dort, wo im Kellergewölbe des Michelbacher Schlosses vor vielen Jahren Kinofilme präsentiert wurden, erzählen Dorfbewohner nun auf der Leinwand von ihrem Leben und blicken lange, gelassen und schweigend in die Kamera.
Die Dorfjungs, die von Station zu Station streunen, sind begeistert, ebenso wie die Wirtin Klara Dietrich und die Köchin Renate Schenkel, die den Theatergästen in der letzten verbliebenen Gaststätte Michelbachs eine üppige Mahlzeit servieren. Die Dorfgemeinschaft erfährt den theatralischen Eingriff in ihre Struktur als belebend. Wunsch der Regisseure ist, dass dies andauert, die Installation zum Keim einer neuen Kultur auf dem Dorfe wird. Ob das gelingen wird, bleibt abzuwarten.