Mit viel Enthusiasmus ist das Ensemble dabei beim Heimatabend am Landestheater Tübingen. Foto: LTT/ Martin Sigmund

Am Landestheater Tübingen (LTT) feierte das Stück „...worin noch niemand war“ seine Uraufführung.

„Was ist Heimat?“: eine Herausforderung, eine verortete Erinnerung, der Ort, an dem Menschen leben, denen man vertraut, der Gegenentwurf zur Gegenwart, der Wunschort voller Geborgenheit, der Fleck, an dem man begraben werden möchte, der Seele Sehnsuchtsort oder ein Zustand der Versöhnung. Eine Antwort darauf versucht Jörn Klare mit seiner Auftragsarbeit für das Landestheater Württemberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT) zu geben. Die Inszenierung liefert dazu eine vielstimmige Collage aus den Geschichten und Schicksalen der Menschen, die der Dramatiker „im Ländle“ zusammengetragen hat.

 

Schauspieler mit instrumentalen Fähigkeiten

Regisseur Sascha Flocken gießt das in der LTT-Werkstatt in eine mit Musik, Gesang und Live-Aufnahmen per Videokamera untermalte Inszenierung, bei der die Schauspieler auch ihre instrumentalen Fähigkeiten an Klarinette, Säge, Kontrabass und E-Gitarre unter Beweis stellen. Begleitet vom Liederzyklus „Winterreise“ des Komponisten Franz Schubert – „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ – erzählen Insa Jebens, Rolf Kindermann, Leo Kramer, Sarah Liebert und Gilbert Mieroph ihre persönlichen Lebensdaten und listen auf, welche örtlichen Stationen sie bereits durchlaufen haben.

Erfahrungen mit Heimat und Heimatlosigkeit

Der Autor stellt in den Mittelpunkt seines Werkes die Aussagen von Menschen, denen er bei seinen Recherchen begegnet ist und die ihre Erfahrungen mit „Heimat“ und „Heimatlosigkeit“ mitteilen. Und so rezitieren die Schauspieler, die Kopfhörer im Ohr und den kleinen Kassettenrekorder in der Hand, deren Stimmen. Das wirkt streckenweise improvisiert, aber auf charmante Art. Es geht um den Verlust der Heimat, um digitale Nomaden, um den ersten Liebeskummer, um die Frage: „Was mache ich hier, was soll ich hier?“ Es geht um Menschen, die sich in ihrem Dorf, in dem die Gardinen Augen haben, nicht mehr wohlfühlen, und um diejenigen, die auf der Flucht sind, etwa vor den Taliban oder aus Syrien: „Die Seele habe ich zurückgelassen in der Heimat, der Körper ist hier.“

Eingebettet in den historischen Zusammenhang

Das ist immer wieder witzig persifliert und eingebettet in den historischen Zusammenhang, wie sich der Heimatbegriff gewandelt hat zwischen Heimatliedern, Heimatfilmen, Heimatvereinen und der Erkenntnis: „Ich habe meine Heimat verlassen, die Heimat aber nicht mich.“ Zwischen der Heimatkonjunktur, der Gier nach einer heilen Welt und der nationalsozialistischen Ideologie von Blut und Boden. Wenn mit dem Baseballschläger der Gartenzwerg zertrümmert wird, offenbart sich, wie der Begriff „Heimat“ für die Propaganda ausgebeutet wird.

Damit wird es politisch, ironisch und sarkastisch gefärbt und aktuell mit Blick auf Klimawandel, Aufrüstung, Künstliche Intelligenz und Überfischung. Das Ensemble ist aufgefordert, die schöne Heimat vorzuspielen, körperlich Wärme und Heimeligkeit darzustellen. Es entstehen poetische Bilder und anrührende Dialoge, wie der zwischen dem Menschen, der abgehauen ist, und der verlassenen Heimat. Im Spiel im Spiel lässt Regisseur Sascha Flocken theaterpädagogisch untermalt kleine Gags passend einflechten.

Die Wände stürzen donnernd ein

Und während beim Umbau auf offener Bühne die Wände donnernd einstürzen, und die Regie mit irren Einfällen jongliert, bahnt sich die Botschaft ihren Weg, dass Heimat eine Solidargemeinschaft ist, etwas Verbindendes, auch wenn noch viel zu tun und es ein mühsamer Weg ist, damit alternative Lebensformen ihre Heimat finden und NSU, Solingen, Hanau, AfD und „Remigration“ überwunden werden.

Im Kampf zwischen Optimismus und Trauerflor darf dann zum Schluss der verspätete „Ehrengast“ Ernst Bloch auftreten mit dicker Brille und Pfeife in vierfacher Ausführung auf dem Sofa sitzend und aus seinem „Das Prinzip Hoffnung“ für eine soziale Gerechtigkeit als universelle Heimat für alle plädieren. Mit ihm und Franz Schubert schließt der Abend, der sich in der LTT-Inszenierung als runde Sache erweist mit viel Kreativität, Einfallsreichtum und jeder Menge Input, Anregungen und ernsten Inhalten.