Ausgerechnet die gröbsten Holperpisten der Region werden zum Vorbild für eine Teststrecke.
Stuttgart - Ausgerechnet die gröbsten Holperpisten der Region werden zum Vorbild für eine Teststrecke: Millimetergenau macht ein vom Daimler-Konzern beauftragter Bautrupp derzeit bei Friolzheim im Enzkreis Abgüsse von den schlimmsten Schlaglöcher - was unzählige Autofahrer nervt, soll künftig als Härtetest für Stoßdämpfer dienen.
Beim Anblick der "Durchfahrt verboten"-Schilder auf der L 1175 bei Friolzheim mag in den vergangenen Tagen manch ein Autofahrer einen Stoßseufzer in den Himmel gesandt haben. Endlich, so der naheliegende Gedanke, wird die gefürchtete Rumpelpiste gerichtet. Endlich ist ein Bautrupp unterwegs, um tiefe Schlaglöcher und fiese Bodenwellen auszubessern. Nicht ohne Grund wurde die Betonpiste zwischen Heimsheim und Friolzheim im Enzkreis im Wahlkampf zu den schlechtesten Landesstraßen in Baden-Württemberg gezählt. Seit Jahren bröckelt der Asphalt, ein Schlagloch reiht sich ans andere. Die zeitweilige Umleitung des Verkehrs beim Ausbau der A8 gab dem maroden Sträßchen den Rest.
Kein Wunder also, dass geplagte Pendler bei der am vergangenen Mittwoch eingerichteten Straßensperrung an die längst überfällige Sanierung der L 1175 dachten. Doch der Bautrupp, für den der Verkehr sich in den kommenden zwei Wochen andere Wege suchen muss, kümmert sich keineswegs um die Ausbesserung der knöcheltiefen Löcher im Asphalt. Auch die zerbröselten Fahrbahnränder werden von den aus Portugal angereisten Bauarbeitern nicht geflickt. Im Gegenteil: Adelio Azevedo und seine vier Kollegen wollen die schwäbische Buckelpiste nicht etwa reparieren, sondern die schlimmsten Schlaglöcher nur so exakt wie möglich kopieren. Im Auftrag des Daimler-Konzerns nehmen die Betonbauer aus Südwesteuropa auf vier Teilstücken nur Gussformen der Holperstrecke ab. Millimetergenau wird abgeformt, was im Alltag das Fahrgestell zum Ächzen bringt.
Landesstraße soll gut 700 Gussformen liefern
Was wie ein verspäteter Aprilscherz wirkt, hat einen durchaus ernsthaften Hintergrund: Mit dem exakten Abguss der Schlaglochpiste will sich der Stuttgarter Autobauer eine praxisnahe Vorlage für künftige Fahrversuche besorgen. Bis jetzt sind die Testfahrer des Unternehmens nämlich vor allem auf öffentlichen Straßen unterwegs, um Prototypen auf Herz und Nieren zu prüfen. Auch die Landesstraße 1175 wird nicht nur bei Daimler gern genutzt, um Fahrgestell und Stoßdämpfer der neuen Boliden ans Limit zu bringen. Die Härtetests auf öffentlichen Straßen haben für die Autohersteller allerdings zwei entscheidende Nachteile: Zum einen ist die Sicherheitslage problematisch - wenn ein Testpilot einen Unfall baut, weil er sein neues Gefährt mit quietschenden Reifen ausreizen will, sind negative Schlagzeilen sicher. Zum anderen scheuen die Autokonzerne die Konkurrenz: Wer die Erlkönig genannten Prototypen im normalen Straßenverkehr herumkurven lässt, muss sich nicht wundern, wenn in Fachkreisen auch schnell Fotos auftauchen.
"Wir wollen die Erprobungsfahrten auf öffentlichen Straßen reduzieren", bestätigt Daimler-Sprecher Markus Mainka das erklärte Ziel des Unternehmens. Nicht ohne Grund plant der Autokonzern den Bau eines neuen Prüf- und Technologiezentrums in Baden-Württemberg. Obwohl der Standort längst noch nicht feststeht, wird im Heckengäu bereits am Herzstück der Ideenschmiede gearbeitet - die Gussformen der Landesstraße 1175 sollen ein Muster für die geplante interne Teststrecke liefern. Neben der Holperpiste bei Friolzheim wird auch die Leonberger Straße von Sindelfingen zur Deponie Dachsklinge als Vorbild dienen. Über weitere Strecken will Daimler-Mann Mainka keine Angaben machen. Und: Auch die Kosten für die Schlagloch-Kopien stuft er als Betriebsgeheimnis ein.
Abgenommen wird das Streckenprofil mit klassischem Betonguss: Die Arbeiter bauen passgenaue Holzverschalungen auf den 50 bis 280 Meter langen Teilstücken und gießen sie mit etwa 20 Zentimeter dickem Estrich aus. Allein die Landesstraße bei Friolzheim soll gut 700 Gussformen liefern. Im Frühjahr wird die kopierte Strecke im Daimler-Prüfzentrum in Papenburg (Kreis Emsland) vermutlich erstmals nachgebaut.
Übrigens: Vor gut einem Jahr war der Enzkreis schon mal als Vorbild für Testzwecke im Gespräch. Daimler wollte die L1175 damals digital abscannen, um bei der Fahrwerk-Abstimmung in Sindelfingen möglichst wirklichkeitsnahe Verhältnisse zu haben. Nutzen lassen sich die digitalen Daten laut Mainka allerdings nur für den Fahrsimulator - für den realen Nachbau schwäbischer Buckelpisten ist echte Handarbeit gefragt. Ob der Enzkreis für die Kopie der Landesstraße einen finanziellen Ausgleich erhält, will der Autobauer nicht beantworten. Geflickt übrigens werden die Schlaglöcher beim Abguss nicht. Zwischen Asphalt und Beton liegt eine dünne Folie - nach der Kopie stellt der Daimler-Bautrupp den Originalzustand der Straße wieder her.