In diesem unscheinbaren Haus in der syrischen Provinz Idlib bereitete Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi die Gründung eines Kalifats vor. Foto: AFP/ABDULAZIZ KETAZ

Der IS dürfte es nach dem Tod des Anführers Kuraischi schwerer haben, sich neu zu formieren – er wird aber weiterhin existieren.

Idlib - In einem unscheinbaren Haus in der syrischen Provinz Idlib bereitete Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi das Comeback des Islamischen Staates (IS) vor. Amerikanische Späher entdeckten vor einigen Monaten das Haus im Dorf Atmeh in Sichtweite der türkischen Grenze. Dann begann nach Darstellung der US-Regierung die Vorbereitung auf einen Militärschlag. Kuraischi starb in der Nacht zum Donnerstag bei einem Angriff von US-Elitesoldaten auf das Gebäude – ähnlich wie sein Vorgänger Abu Bakir al-Bagdadi, der ebenfalls in Idlib Unterschlupf fand, bis er 2019 von den Amerikanern aufgespürt wurde. Idlib dürfte auch weiterhin ein Rückzugsraum für den IS bleiben.

In Syrien war Idlib einst für seine Oliven bekannt. In der internationalen Öffentlichkeit steht der Name Idlib für Terror, Gewalt und Flüchtlinge. Rund drei Millionen Menschen, die meisten von ihnen Flüchtlinge aus anderen Landesteilen, leben in der Provinz, die etwa doppelt so groß ist wie das Saarland. Idlib ist das einzige syrische Gebiet westlich des Euphrat, das nach fast elf Jahren Krieg noch in der Hand von Rebellen ist.

In Idlib herrscht eine sogenannte „Regierung der Erlösung“

Beherrscht wird Idlib von der islamistischen Miliz Hajat Tahrir al-Scham (Organisation zur Befreiung der Levante – HTS), der früheren Nusra-Front aus dem Dunstkreis des Terrornetzwerkes Al-Kaida. HTS führt in Idlib eine so genannte „Regierung der Erlösung“ und kontrolliert die Grenze zur Türkei und damit die humanitäre Versorgung der Flüchtlinge und den Schmuggel. Die Türkei hat Soldaten in Idlib stationiert, um einen Großangriff der syrischen Armee zu verhindern, denn neue Kämpfe könnten Millionen Flüchtlinge über die Grenze treiben.

Unter den in Idlib Gestrandeten sind auch Extremisten, denn der IS nutzt die Provinz als Refugium. HTS betrachtet den IS als Feind und hat nach Zählung des Terrorexperten Aaron Zelin vom Washington-Institut für Nahost-Politik in den vergangenen fünf Jahren bei insgesamt 21 Razzien in Idlib versucht, IS-Zellen auszuheben. Anders als der IS verfolgt HTS keine Ambitionen, die über Syrien hinausgehen und wirbt offen um Anerkennung im Westen. Der frühere US-Syrienbeauftragte James Jeffrey nannte HTS „die am wenigsten schlechte Option in Idlib“, die Washington zur Verfügung stehe.

Doch HTS kann nicht jeden Einwohner von Idlib überwachen. Auch in der Gegend um das Dorf Atmeh herrsche ein ständiges Kommen und Gehen von Vertriebenen, sagt Charles Lister von der Nahost-Denkfabrik MEI in den USA. Mitglieder des IS und von Al-Kaida mischen sich unter die Flüchtlinge. Auch Bagdadi und Kuraischi kamen unerkannt nach Idlib.

Wie viele IS-Kämpfer in Idlib leben, ist unbekannt

Wie viele der schätzungsweise 10 000 verbliebenen IS-Kämpfer in der Provinz leben, ist unbekannt. Truppen der Terrormiliz hatten sich in den vergangenen Jahren auch im Wüstengebiet zwischen dem Südosten Syriens und dem Westen Iraks festgesetzt. Zum IS-Potenzial gehören darüber hinaus Tausende inhaftierte Kämpfer und Zehntausende ihrer Familienangehörigen in SDF-Gefängnissen. Allein im Lager Al Hol im Nordosten Syriens leben fast 60 000 Frauen und Kinder; laut Medienberichten wirbt der IS dort Kindersoldaten an. In dem Gefängnis in Hassakah, das kürzlich von IS angegriffen wurde, sitzen rund 3000 IS-Kämpfer.

Lister und andere Experten werten den Tod von Kuraischi zwar als Rückschlag für den IS, aber nicht als Todesstoß. Zwar dürfte die Suche nach einem neuen „Kalifen“ schwieriger werden als nach dem Tod von Bagdadi, der Kuraischi als Nachfolger benannt hatte. Auch gab es in den vergangenen Jahren Spannungen im IS, etwa zwischen irakischen und syrischen Gruppen . Doch so lange die Ideologie der Dschihadisten Extremisten anzieht und die IS-Mitglieder im Chaos des syrischen Bürgerkrieges untertauchen können, wird der IS weiterleben.