Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hofft auf ein Ende der Gewalt im Nahen Osten. Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa Pool/dpa

Vor einem Jahr erschütterte die Attacke der Hamas Israel - aber auch in Deutschland hat sich das Leben verändert. Jüdinnen und Juden sehen sich im Ausnahmezustand.

Berlin - Ein Jahr nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel sieht Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Deutschland in einer Zerreißprobe. "Seit dem 7. Oktober erleben wir auch an deutschen Schulen und Universitäten, in Kultureinrichtungen, auf den Straßen und in den Medien, wie uns dieser Krieg im Nahen Osten zu zerreißen droht", sagte Steinmeier bei einem Gedenkakt in Berlin. 

 

"Trauer, Wut, Ohnmacht, Angst um Angehörige und Freunde auf beiden Seiten, solche Gefühle treiben auch in unserem Land viele Menschen um", fügte er hinzu. "Aber so aufgewühlt wir auch sein mögen, wir dürfen darüber nicht unseren Kompass verlieren." Die Bedrohung von Juden oder die Forderung von Demonstranten nach einem Nahen Osten ohne Israel: Das sei Antisemitismus. "Das dürfen und das werden wir niemals dulden", erklärte Steinmeier.

"Dieser Krieg hat schon jetzt zu viele Menschen getötet"

Steinmeier äußerte sich bei einer interreligiösen Feier in der Gedächtniskirche in Berlin - einer von vielen Gedenkakten in ganz Deutschland. Am 7. Oktober 2023 hatten Terroristen der radikal-islamistischen Hamas und anderer Gruppen etwa 1.200 Menschen in Israel getötet und etwa 250 weitere als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt. Dies war der Auslöser für den bis heute andauernden Gaza-Krieg.

Bundeskanzler Olaf Scholz besuchte eine Gedenkzeremonie in einer Synagoge in Hamburg-Eimsbüttel. "Wir sind immer noch erschüttert", sagte der SPD-Politiker am Rande. Es sei jetzt notwendig, dass es bald zu einem Waffenstillstand komme, der mit der Freilassung der Geiseln verbunden sei. Das Brandenburger Tor in Berlin wurde am Abend in den Farben der israelischen Flagge angestrahlt.

Steinmeier betonte, es gehöre zur deutschen Verantwortung, an der Seite Israels zu stehen, wenn die Heimstatt der Jüdinnen und Juden angegriffen werde. Doch sagte er auch: "Dieser Krieg hat schon jetzt zu viele Menschen getötet, zu viel Leid gebracht: für Israelis und für Palästinenser, und jetzt auch für die Menschen im Libanon." Auch die Menschen in Gaza erlebten seit einem Jahr unermessliches Leid, Flucht, Hunger und Krankheiten. 

"Die Fragen werden lauter, drängender, auch die öffentliche Debatte – weniger darüber, ob Israel ein Recht zur Selbstverteidigung hat, sondern darüber, wo die Grenzen jeden Rechts auf Selbstverteidigung liegen", erklärte der Bundespräsident. Eine Wirklichkeit, in der Israelis und Palästinenser friedlich nebeneinander leben könnten, werde nicht allein mit militärischen Mitteln gelingen. Nötig sei eine politische Perspektive. Zugleich warnte Steinmeier vor einfachen Antworten und einer leichtfertigen Verurteilung Israels.

Acht von zehn jüdischen Gemeinden beklagen Unsicherheit

Seit dem Terrorangriff auf Israel fühlen sich viele Jüdinnen und Juden in Deutschland bedrängt, eingeschüchtert und verunsichert. Der Zentralrat der Juden in Deutschland schrieb in einem neuen Lagebild, 42 Prozent der jüdischen Gemeinden hätten dieses Jahr antisemitische Vorfälle wie Schmierereien, Drohanrufe oder Beleidigungen festgestellt. Das Bild stützt sich auf eine Umfrage, an der sich Führungspersonen von 98 der 105 Gemeinden beteiligten.

82 Prozent gaben demnach an, es sei unsicherer geworden, in Deutschland als Jüdin oder Jude zu leben und sich so zu zeigen. Im Vergleich zur vorherigen Umfrage des Zentralrats Ende 2023 stieg dieser Wert um vier Prozentpunkte. Als "bittersten Befund" bezeichnete es Zentralratspräsident Josef Schuster, dass die Unterstützung in Deutschland abgenommen habe. In der aktuellen Umfrage gaben 39 Prozent an, dass die jüdischen Gemeinden Solidarität seitens der Gesellschaft erführen – in der vorherigen Umfrage waren es mit 62 Prozent noch deutlich mehr.

Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) erklärte, der Kampf gegen Antisemitismus sei umso dringlicher, auch in Kunst und Kultur. "Die Zahl antisemitischer Vorfälle hierzulande hat seitdem ein erschreckendes Ausmaß angenommen", warnte Roth. "Wenn Jüdinnen und Juden bei uns auf offener Straße attackiert werden, dann ist das eine beschämende Erinnerung an Bilder aus der dunkelsten Geschichte dieses Landes."

Gedenken im ganzen Land

Das Gedenken begann schon am sehr frühen Montagmorgen. Am Brandenburger Tor in Berlin und Dutzenden anderen Orten weltweit verlasen Aktivisten um 5.29 Uhr - dem Beginn des Angriffs auf Israel am 7. Oktober 2023 - die Namen von 1.170 Ermordeten und 255 Entführten. In vielen Bundesländern erinnerten Politiker an den schrecklichen Überfall und seine Folgen, so etwa in Berlin und Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Mecklenburg-Vorpommern oder Bayern.

Um die Gedenkveranstaltungen und die Demonstrationen in der Hauptstadt zu sichern, waren nach Angaben der Polizei etwa 2.300 Sicherheitskräfte im Einsatz. Für den Abend waren etliche projüdische wie auch propalästinensische Kundgebungen angekündigt, nicht nur in Berlin, sondern auch in anderen Städten.

Bei einer propalästinensischen Demonstration in Berlin-Kreuzberg kam es zu Flaschenwürfen auf Polizisten und israelfeindlichen Parolen, wie die Polizei auf der Plattform X mitteilte. Es habe eine Reihe von vorläufigen Festnahmen gegeben. In dem Zusammenhang hätten Teilnehmer der Kundgebung Einsatzkräfte bedrängt, nach ihnen geschlagen und getreten. An der Kundgebung mit dem Titel "Solidarität mit Palästina" beteiligten sich nach Polizeischätzung bis zu 550 Menschen. Auch die schwedische Aktivistin Greta Thunberg war dabei.

In Frankfurt am Main kamen laut Polizei 1.300 Menschen zu einer propalästinensischen Demonstration, die Veranstalter sprachen von mehr als 2.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Die Stadt war zuvor vor Gericht mit dem Versuch gescheitert, die Demonstration mit dem Titel "Für ein freies Palästina – Der Sieg gehört der Gerechtigkeit" zu verbieten. Auf Transparenten stand "Schluss mit dem Besatzungsterror", "Waffenstillstand jetzt sofort" und "Gießen gegen Genozid".