Stadthaus Ulm: In der Münsterstadt spielt Shaam Joli Theater, bietet Workshops an. Ihre Themen sind Frauenrechte, Rassismus und mentale Gesundheit. Foto: Sichtlichmensch/Andy Reiner

Shaam Joli wächst unbeschwert in Damaskus auf, mit 12 wird sie vom einen auf den anderen Tag alleine auf Fluchtwegen nach Deutschland geschickt. Die heute 28-jährige Filmemacherin erzählt uns ihre Geschichte erstmals im November in Ulm. Dann geschieht das Unfassbare in ihrem Geburtsland Syrien.

Shaam Joli hängt langes lockiges Haar über die Schultern wie ein warmer Kopfmantel. Als wir uns Ende November das erste Mal treffen, wird in Ulm gerade der Weihnachtsmarkt aufgebaut, ein eisiger Wind weht ums Münster und Joli überlegt, eine Mütze zu kaufen, trotz des Haarmantels. „An dieses Wetter werde ich mich nie gewöhnen“, sagt die 28-jährige Frau aus Syrien, die seit 15 Jahren in Ulm lebt. Manchmal redet man erst übers Wetter, wenn das, was man eigentlich sagen will, schwerer wiegt, als Worte tragen können. Als Kind mit 12 Jahren von den Eltern alleine weggeschickt zu werden – wie soll man das erzählen?

 

Shaam, so nennen Levantiner auch die syrische Hauptstadt Damaskus, eine Metropole mit zweieinhalb Millionen Einwohnern. Dort ist Shaam Joli aufgewachsen, in einer der ältesten dauerhaft bewohnten Städte der Welt im Barada-Tal unterhalb des Berges Quasyun. In den Gassen ihrer Kindheit hängt der Geruch von Datteln und getrockneten Kräutern, Orangenschalen liegen auf dem Straßenpflaster. Shaam trifft ihre Freundinnen in der Altstadt, spielt unbeschwert, mit ihrer Mutter geht sie in schönen Läden glitzernde Kleider kaufen und nachmittags ärgert sie sich über ihre Hausaufgaben. Die Eltern, Akademiker, sagen der Tochter: „Such dir das Leben aus, das du willst.“

Von Pumuckl lernte das syrische Mädchen Deutsch

Shaam Joli erzählt ihre Geschichte in einem warmen Café unweit des Ulmer Münsters. Ihre großen Augen reißt sie weit auf, ihr Deutsch ist sehr gut. Von Pumuckl hat sie Deutsch gelernt, sagt sie. In der Wohngruppe, der sie in Ulm nach ihrer Ankunft in Deutschland angehörte, gab es einen Laptop. Um den entbrannte dauernd Streit. Konnte sie ihn ergattern, legte sie Pumuckl ein. Immer wieder liefen die Folgen. Niedlich und lustig fand sie den Kerl, dessen Haare genau so wild vom Kopf abstanden wie ihre damals.

Dass Shaam Joli am 8. Dezember 2024 in Stuttgart auf der Straße stehen und jubeln würde mit Hunderten anderer Syrer und die Befreiung ihres Landes feiern, dass sie auf Instagram schreiben würde „Heute hat jeder Syrer in jedem Land der Welt dich gefeiert, Syrien“, das kann sie sich wenige Wochen zuvor, Ende November, nicht vorstellen.

Zu fürchterlich und ausweglos erscheint ihr alles, was sie zuletzt in Syrien gesehen hat. 2023 kann Joli, die neben dem syrischen nun auch einen deutschen Pass hat, zum ersten Mal seit ihrer Flucht wieder in ihre Geburtsland reisen. Doch die Menschen leiden Hunger, haben Angst, viele sind einfach verschwunden, die Häuser braun und zerfallen. Und dauernd kommen mehr Landbewohner nach Damaskus, weil es weiter draußen noch viel schlimmer ist. „Das ist nicht mehr das Land meiner Kindheit“, denkt Shaam Joli.

Einmal auf dieser Reise wird sie in den Gassen der Stadt von einem jungen Soldaten aufgefordert, ihren Pass zu zeigen. Sie gibt ihm den syrischen, das Foto ist nach hinten geklappt, nur die Schrift vorne zu sehen für den Mann, der fast noch ein Kind ist. Joli beobachtet den Soldaten und sieht, dass er den Pass verkehrt hält. Er kann nicht lesen. Joli ist fassungslos: „In einem Land, in dem Bildung immer wichtig war, gibt es jetzt eine ganze Generation, die nie zur Schule gegangen ist, die nur Krieg kennt und Hunger.“ In Damaskus sehnt sie sich plötzlich sehr nach Ulm. Wieder zurück, vermisst sie ihre Geburtsstadt. „Muss ich mich entscheiden, wo ich hingehöre?“ So lange in ihrer Heimat Bürgerkrieg herrscht, ist es so, denkt sie.

Die Eltern wollen sich nicht mundtot machen lassen in Syrien

Shaam ist elf Jahre alt, als sie Veränderungen in Damaskus bemerkt. Auf den Straßen wird demonstriert. Die Eltern flüstern hinter verschlossenen Türen, es gibt dauernd Streit wegen Nichtigkeiten, abends steht manchmal kein Essen mehr auf dem Tisch. Der Vater sitzt nur noch vor dem Computer, sagt kaum mehr etwas, die Mutter ist nervös, bricht oft in Tränen aus. Es herrscht „eine verdammte Angst“, wie Joli sagt. Und das versteht das elfjährige Mädchen nicht.

Heute weiß Shaam Joli, ihre Eltern sind schon früh mit einem Reiseverbot belegt worden, erfuhren Schikane und Bedrohungen durch Baschar al-Assads Schergen. Noch vor Beginn des Arabischen Frühlings und des Bürgerkriegs sind die Eltern Jolis mit ihrem offenen Lebensstil angeeckt. „Sie waren sehr frei, zu frei“, sagt Joli. Die Eltern wollten sich nicht mundtot machen lassen. Doch einen wunden Punkt hatten sie: das Kind.

Was in Syrien damals mit Regimegegnern geschieht, offenbart sich der Welt in diesen Tagen in aller Brutalität, wenn Menschen befreit werden aus den Verliesen des Saidnaja-Gefängnis nördlich von Damaskus. Man nennt den Ort „Schlachthaus“. Die Zugänge zu den Kerkern hatten Assads Handlanger versperrt, zugemauert. Manche Gefangene verharrten dort seit Jahrzehnten. In syrischen Gefängnissen saßen Tausende Frauen und Kinder ein, sagt Shaam Joli.

„Besonders für Frauen sind die syrischen Gefängnisse ein brutaler Ort“

Schon vor dem Fall des Assad-Regimes blieb das Foltersystem der Welt nicht verborgen. Shaam Joli, die in Ulm heute als Schauspielerin und Regisseurin arbeitet, hat einen Kurzfilm gedreht, der in einem syrischen Gefängnis spielt. „The Prison“ basiert auf den Erfahrungen einer 21-jährigen Frau, die dort gefangen war und immer noch nicht versteht, warum sie überhaupt verhaftet wurde.

Ein Jahr lang wird sie in der Zelle täglich vergewaltigt und gedemütigt. Sie erzählt von ihren schrecklichen Erfahrungen und dem Verlust ihrer Identität. „Besonders für Frauen sind die Gefängnisse ein brutaler Ort“, sagt Shaam Joli. „The Prison“ ist in diesem Jahr bei den Filmtagen Oberschwaben mit dem Soroptimist-Preis für Frauen geehrt worden. Der Preis würdigt Engagement für die Verbesserung der Stellung der Frau in der Gesellschaft. Auch bei der Filmschau in Stuttgart lief „The Prison“ kürzlich.

Menschen betreten den Keller des Saidnaja-Gefängnisses nach dem Sturz der syrischen Regierung. Foto: AP/Hussein Malla

Als Shaam 12 Jahre alt ist, sagt die Mutter eines Abends, das Mädchen müsse Syrien verlassen, die Eltern könnten nicht mitkommen. Schon am nächsten Tag packt die Mutter der Tochter eine kleine Tasche, hängt ihr alle Goldketten um den Hals, steckt Geldscheine dazu und einen Teddybär mit Herz auf dem Bauch, „I love you“ steht da. Die Mutter sagt nichts mehr, die Tränen fließen ihr lautlos übers Gesicht, tropfen vom Kinn auf den Boden. Shaam ist fassungslos, zeigt keine Regung. Sie versteht nichts, denkt: „Was habe ich falsch gemacht? Die wollen mich nicht mehr. Warum weint Mama, wenn sie mich weg schickt?“

Die Männer sagen: „Du bist Nummer neun“ – alle sind jetzt eine Nummer

Shaam Joli nimmt ihre Tasche und verlässt mit einem Bekannten das Haus, es heißt: „Du gehst in die Türkei.“ Sie denkt: „Jetzt könnte ich auch sterben.“ In Istanbul bezieht sie mit anderen Namenlosen ein verrammeltes Ferienhaus, die Fenster des Zimmers sind schwarz angestrichen, Handys gibt es nicht, nur ein kleiner Fernseher hängt von der Decke. Nach zwanzig Tagen sagt jemand: „Es gibt ein Boot.“ Sie bezahlt 1500 Dollar, fünf Stunden dauert die Busfahrt zu einer entlegenen Bucht am Meer. Mit 40 anderen steht sie dort, ihr Bauch zieht sich zusammen, sie fühlt sich furchtbar. Sie will nicht noch weiter weg von zu Hause. Vielleicht kommen die Eltern und holen sie ab?

Die Männer sagen zu Shaam: „Du bist Nummer neun.“ Alle sind jetzt eine Nummer. Es werden vier Gruppen gebildet. Eine halbe Stunde bevor sie einsteigen soll, ruft Shaam: „Ich komme nicht mit.“ Die Männer antworten: „Mach, was du willst, aber dein Geld siehst du nicht wieder.“ Shaam ist das egal. Sie sieht die Boote ablegen, wird zurückgefahren ins Ferienhaus. Wenige Tage später sieht sie das Grausamste im Fernsehen. Das Boot, in dem auch sie hätte sitzen sollen, ist gekentert. Alle Passagiere sind tot.

Was in dem türkischen Gefängnis geschehen ist, kann sie nicht erzählen

Shaam Joli fühlt sich hilflos. Die Flucht ist wie ein erbarmungsloser Dauerlauf. Sie will weg aus dem verrammelten Haus. Wem kann sie vertrauen? Jemand besorgt ihr einen mexikanischen Pass. Doch am Flughafen in Istanbul wird sie enttarnt, landet in einem türkischen Gefängnis. Mit anderen Geflüchteten, mit verurteilten Mörderinnen, Dieben und Prostituierten teilt sie ihre Zellen. In ihrer Heimat ist der Bürgerkrieg ausgebrochen, Joli erfährt nichts davon. Im Gefängnis wird sie 13, doch welcher Tag ist, weiß sie nie. Was alles in dem türkischen Gefängnis geschehen ist, kann Shaam Joli nicht erzählen. Sie hat Albträume, nachts plötzlich Angst, jemand könnte sie einfach aus dem Bett zerren, wie es dort so oft geschehen ist.

Irgendwann, es sind sechs Monate vergangen, wie sie später erfährt, bricht sich Shaam Joli das Bein. Sie kommt zu einem arabischen Arzt. Er sagt: „Du musst Asyl beantragen.“ Das hört die 13-Jährige zum ersten Mal und merkt: Man hat sie einfach im Gefängnis vergessen. Shaam Joli fängt an, um Putzdienste zu betteln, kann sich etwas Geld verdienen. Sie kauft Telefonkarten, ruft ihre Eltern an. Dann beantragt sie Asyl – und kann endlich das Gefängnis verlassen.

Mit 13 Jahren landet das syrische Kind allein in Frankfurt am Main

Fühlt sie sich nun frei? In Istanbul? Shaam Joli kann bei einem Freund ihres Vaters unterkommen. Doch was im Gefängnis geschehen ist, lässt sie nicht los. Sie will weg aus der Türkei. Der Kontakt zu den Eltern bricht wieder ab. Und in Shaam verändert sich etwas. Jetzt denkt sie: „Ich will leben.“ Sie nimmt allen Schmuck, den sie noch hat, und besorgt sich ein gefälschtes Visum. Am Istanbuler Flughafen steht ihr kalter Schweiß auf der Stirn, an dem Ort, an dem schon einmal alles schief gelaufen war.

Doch dieses Mal funktioniert es. Mit dem gefälschten Visum fliegt Shaam Joli nach Brasilien, um unentdeckt zu bleiben, weiter nach Argentinien, von dort nach Mexiko und sitzt dann in einem Flugzeug nach Frankfurt am Main. Kann sie aufatmen? Sie schläft vier Tage lang nicht. Im Flieger neben ihr sitzt ein libanesischer Geschäftsmann. Er sagt: „In Deutschland hassen sie Kinder. Im Zweiten Weltkrieg haben die Deutschen Kinderblut getrunken.“ Shaam Joli, das 13-jährige Mädchen, klammert sich an die Armlehne, am liebsten will sie in der Luft aussteigen. Sie geht aufs Klo, zerreißt ihren syrischen Pass.

Shaam Joli kann noch gar nicht begreifen, dass es in Syrien zu so einem radikalen Wandel gekommen ist

Auf dem Frankfurter Flughafen marschiert sie los, sagt auf Arabisch zu einem Polizisten: „Ich habe nichts.“ Alles, was sie noch hat, ist das kurze Kleid, das sie trägt, und einen Teddybär in ihrer Hand: „I love you“. Beamte führen das Kind in ein Zimmer, suchen einen Übersetzer. Sie schaut dem Polizisten direkt in die Augen.

Was gibt der 13-Jährigen die Kraft? Heute sagt sie: „Ich hatte Träume, ich wollte erwachsen werden. Ich war bereit, alles zu tun.“ Der Polizist sieht, wie sie zittert, lässt eine Decke holen und Süßigkeiten, der Übersetzer hilft. Den Männern wird klar, das Mädchen ist erst 13. Der Polizist redet mit dem Übersetzer, der wendet sich an Joli, sagt: „Du musst jetzt keine Angst mehr haben.“

Als wir Anfang Dezember noch einmal mit Shaam Joli sprechen, ist sie außer sich vor Freude. Sie kann noch gar nicht begreifen, dass es in ihrem Land zu so einem radikalen Wandel kommen konnte. „Ich habe gejubelt und geschrien, geweint und gelacht.“ Jetzt gebe es Hoffnung. Mit ihren Eltern hat sie jeden Tag Kontakt. Joli denkt darüber nach, zurückzukehren, ein neues Land mit „aufzubauen“, sagt sie. Auch wenn jetzt vieles unsicher ist, auch wenn in den Filmaufnahmen der Rebellen um Abu Mohammed al-Dscholani wieder nur Männer zu sehen sind. Wird jetzt ein Staat entstehen, der auch die Rechte von Frauen schützt, für die Shaam Joli kämpft? Ganz fest vorgenommen hat sie sich nur eines: „Später will ich meinen Kindern von unserem befreiten Land erzählen.“