Sulz-Glatt - Nach der Oper ist vor der Oper – das gilt seit 2017 auch für das Premierenwochenende der Festspiele Schloss Glatt. Und bei vier Aufführungen, wie in diesem Jahr, gilt es natürlich um so mehr.

Es wurde gefeiert am Freitagabend in Glatt, nicht ausufernd, aber ausgelassen. War ja auch ein langer Lauf bis dahin. Oder besser: Hindernislauf, Mittelstrecke, mit fulminantem Endspurt. Denn es ist immer wieder erstaunlich, welchen Zug kurz vor der Premiere noch einmal ins Ensemble der Festspiele kommt. Dieses Jahr gab es eine Neuerung. Premiere für die Südwestdeutsche Philharmonie Konstanz in Glatt. Eigentlich eine sehr gute Adresse, doch lief noch bei der Generalprobe manches auch da nicht rund. Um so mehr machte der Mittwochabend Lust auf die Premiere am Freitag. Denn, auch das sind die Opernfestspiele unter der Leitjng von Sven Gnass, spätestens wenn das Solistenensemble hier "angekommen" ist und sich vollzählig durch die Geschichte singt, liegt ein ganz besonderer Zauber über dem Ort und dem Wasserschloss, das selbst gewissermaßen als Akteur zuverlässig "bella figura" macht. Natürlich bezieht der Regisseur alles, was geht mit ein. Regelmäßig den Balkon des Schlosscafés und dieses Mal auch sich selbst: Als Kneipenwirt Pastia tritt Lars Franke in Aktion, und in den Sprechtext hat er einen Schlenker in Richtung Ortsvorsteher eingebaut. Von wegen Gängelung von Amtswegen und so. Der Angesprochene nimmt’s mit Humor.

Halber Ort gefordert

Dass bei den Festspielen halbe Ort gefordert wird, ist dabei nichts Neues. Natürlich sind da die Proben, und im Schlosshof herrscht, spätestens, wenn die Tribüne aufgebaut wird und sich für rund 800 Besucher bis auf Traufhöhe des Wirtschaftsgebäudes zieht, Ausnahmezustand. Wer will, kann gerne vor Ort schauen und hören, was die Opernleute so treiben, wie sie das Stück, wie sie die Rollen entwickeln. Da kann es sein, dass auf der Bühen gerade große Arie gesungen wird, während der Kollege vom städtischen Betriebshof wenige Schritte entfernt noch ein paar Sicherheitsschrauben eindreht.

Und es geht noch einmal eine Spur besser: Einen Escamillo, wie ihn Markus Brück gibt, kann man sich nur wünschen. Kein Narzisst, kein aufgeblasener Schönling, sondern ein ebenso schillernder wie rotziger und knarziger Lebensspieler ist da zu erleben. Es ist der auf der Bühne klar definierte Gegenentwurf zum ebenso sehr gut disponierten Don José Stevan Karanacs, dessen Wesen runder, innerlicher, die Partie musikalisch weicher und mit vielen Details angelegt sind.

Unerschrockener Auftritt von Kinderchor

Sie würden dann einige ganz besondere Sänger treffen, denn "Carmen" sieht einen Kinderchor vor. Dieser kommt von der Horber Gutermann-Grundschule und erhält für seinen unerschrockenen Auftritt großen Applaus. Der Erwachsenenchor setzt sich aus Studierenden der Trossinger Hochschule und einigen zusätzlichen Sängerinnen und Sängern aus der ganzen Region zur Verstärkung zusammen. So erleben gut 800 Besucher eine begeisternde Premiere, in der Pause gut versorgt vom Bürger- und Kulturverein, dem Musikverein, den Schlosshexen, dem Fischereiverein und dem Tennisverein aus Glatt. So viel Manpower ist auch nötig, um allen Operngästen ihre Stärkung zu geben und dabei die Pause nicht zu lange werden zu lassen. Auch mit Blick auf das Wolkenspiel im Himmel, der diesmal wohlgesonnen war. Pullover konnten auch im dritten Akt über die Schultern gelegt und die Regenponchos, die’s für den Notfall gibt, in ihren Schachteln bleiben.

Übrigens: Mehr als ein Premierengast will die Chance nutzen, und diese Carmen-Produktion noch einmal erleben. Nur zu: Am Freitag, 26., und Samstag, 27. Juli ist noch einmal Gelegenheit.

Glatt bietet eine "Carmen" zum Anfassen

Von null auf Hundert in ein paar Wochen – das ist je nach Projekt problemlos möglich. Dass es bei einer "Carmen"-Produktion so ohne Weiteres funktioniert, ist eher unwahrscheinlich. Und doch erleben die rund 800 Premierengäste im Wasserschloss Glatt am Freitagabend ein Ensemble, das die Hundert mal locker reißt.

Es muss etwas mit dem Setting zu tun haben, mit dem beschaulichen bis idyllischen Rahmen im oberen Glatttal im Norden des Landkreises Rottweil, in dem die Oper wie in einer Open-Air-Werkstatt, die jederzeit für jedermann zugänglich ist, entwickelt wird. Daraus wächst eine Unmittelbarkeit, die sich bis in die Aufführungen erhält. Nicht Opernspektakel als Event, sondern Musiktheater zum Anfassen liefern die Opernfestspiele, die natürlich auch von ihrer eigenen Geschichte profitieren. Leiter Sven Gnass hat in den vergangenen Jahren einiges an Erfahrung sammeln können, und mit Lars Franke hat er sich einen Regisseur zum Festival geholt, der nicht nur die "Don Giovanni"-Inszenierung 2017 übernommen hatte, sondern das lebt, was Gnass will: Distanz aufheben, Musik und Spiel nicht als elitäres Ereignis, sondern als Angebot für die Menschen begreifen.

Eher luftige, spielerische Interpretation

Damit das funktioniert, muss das Handwerk natürlich stimmen. So legt Gnass in der "Carmen" großen Wert auf eine eher luftige, spielerische Interpretation. Die Rezitative sind gestrichen, die Tempi eher flott – der Ausdruck bleibt gleichwohl voll. Kann man machen. Sollte man auf jeden Fall wagen, wenn man ein Ensemble wie für Glatt in diesem Jahr zur Verfügung hat: Solch eine Homogenität auf hohem Niveau quasi quer durch die ganze Truppe gab es bislang nicht. Auch das ist teilweise dem Ruf, den sich Glatt erspielt hat, geschuldet.

Und es geht noch einmal eine Spur besser: Einen Escamillo, wie ihn Markus Brück gibt, kann man sich nur wünschen. Kein Narzisst, kein aufgeblasener Schönling, sondern ein ebenso schillernder wie rotziger und knarziger Lebensspieler ist da zu erleben. Es ist der auf der Bühne klar definierte Gegenentwurf zum ebenso sehr gut disponierten Don José Stevan Karanacs, dessen Wesen runder, innerlicher, die Partie musikalisch weicher und mit vielen Details angelegt sind.

Im Berlin der 1920er-Jahre verortet

Die Carmen, die nicht nur diese beiden in ihren Bann zieht, ist mit ihren Gefährtinnen ein bisschen Showgirl, ein bisschen große Verführerin und ganz viel selbstbewusste moderne Frau. Farrah el Dibany entwickelt diese Figur exakt in Gnass’ Duktus: klar, luftig, nicht oberflächlich, ausdrucksstark über ganz unterschiedliche Facetten hinweg. Dass mit Marie-Audrey Schatz eine nichts anderes als brillante Micaëla am Start ist, überrascht dann auch nicht mehr. Und die Damen und Herren lebenslustige Freundinnen und Ganoven halten dem stand. Julia Domke und Melina Meschkat, Marcelo De Souza Felix, Elliott Hines und Daniel Fix überzeugen nicht nur mit großer Präsenz, sondern tragen Spiel und Musik mal launig, mal dramatisch, jedenfalls auf hohem Niveau.

Schließlich muss man auch dem Chor, der eben kein Opernchor – man ist in Glatt, und da wächst Oper innerhalb weniger Wochen – ein Kompliment aussprechen. Er bleibt in Lars Frankes Konzept, das die "Carmen" als Spiel über Leidenschaft und Eifersucht in einer hybriden Gesellschaft – mit einen ebensolchen Ensemble – im Berlin der 1920er-Jahre verortet, über die ganze Strecke klar und transparent – und auch spielerisch greifbar.